Sicher hat er noch nie ein Zelt gesehen und erst recht keines auf einem Autodach. Mir ist bewusst, dass ihm die ganze Situation höchst ungewöhnlich erscheinen muss. Bei den Samburu ist es schließlich nicht üblich, dass Gäste ihr eigenes Haus mitbringen. Wenn sie unterwegs sind, können sie überall um Unterschlupf bitten. Es gilt nur, bestimmte Regeln einzuhalten. So kann ich mich erinnern, dass mein Ex-Mann nur bei Frauen übernachten durfte, die einen Sohn in seiner Altersstufe hatten. Wahrscheinlich ist dies eine Sitte, um dem Fremdgehen vorzubeugen.
Nachdem Lketinga die Dachzelte inspiziert hat, fragt er besorgt, wo ich denn schlafen werde, ob hier oder in der Manyatta von Mama. Ich deute auf die Fahrer, die gerade dabei sind, mein Zelt aufzustellen, und antworte: „Die erste Nacht schlafe ich in diesem Zelt, bis ich mich etwas eingewöhnt habe. Dann würde ich gerne eine Nacht bei der Mama verbringen.“ „Okay, no problem“, meint er gelassen, dann geht er zu den Fahrern und hilft beim Aufbau des Zeltes.
Staunend beobachte ich ihn dabei, denn für die Samburu ist der Hausbau ausschließlich Sache der Frauen. Sie fällen und schleppen die dicken und dünnen Äste für das Grundgerippe einer Manyatta. Anschließend wird Kuhdung und Lehm gesammelt und zum Verputzen der Wände und dem Dach eingesetzt. Dafür gehört das Haus — einschließlich allem Hausrat — immer den Frauen. Männer besitzen keine Häuser.
Als junge Männer lernen sie in den Jahren als Krieger das Überleben im Busch ohne eine eigene Manyatta. Nach der Beschneidung verlassen sie das Haus ihrer Mutter und leben in einer Männergemeinschaft irgendwo im Busch. In dieser Zeit übernachten sie größtenteils im Freien draußen bei den Kühen. Wenn es regnet, spannen sie sich ein Kuhfell über die Häupter und warten, bis die Sonne wieder scheint und sie ihre Kangas trocknen können. Allenfalls ein paar persönliche Gegenstände können sie in der Hütte ihrer Mutter aufbewahren und nach einer längeren Zeit auch ab und zu dort übernachten. Doch dürfen sie nicht einmal vor der eigenen Mutter etwas essen. Beschnittene, das heißt verheiratete Frauen dürfen niemals das Essen eines Kriegers vorher gesehen haben.
Gestern Abend erzählte uns James in der Maralal Lodge, wie schwer für ihn diese Kriegerzeit war. Da er kaum in einer Manyatta aufgewachsen ist, sondern in der Schule lebte, schlief er mit seinen Schulkameraden in normalen Zimmern. Als er dann mit siebzehn Jahren kurz nach der Beschneidung ebenfalls für einige Monate in den Busch ziehen musste, um Kühe zu hüten und traditionelle Rituale durchzuführen, war dies ziemlich ungewohnt für ihn. Vor allem die Nächte waren hart. Mit einem Mal lag er draußen auf einem Kuhfell und fand wegen der ihm unbekannten Geräusche kaum Schlaf. Jedes Mal, wenn er wach wurde, versuchte er vergeblich, nach Wänden zu tasten.
Mittlerweile steht auch mein Igluzelt und Lketinga steckt gerade den letzten Hering in die Erde. Ich bin bewegt und gerührr, wie hilfsbereit er mit angepackt hat. Früher sagte er bei ihm ungewohnten Arbeiten oft: „Ach, ich weiß nicht, wie das geht, mach es doch selber!“ Wir beginnen, unser Gepäck zu sortieren und ich schleppe meine zwei großen Reisetaschen in meine Behausung. Es dauert nicht lange und Lketinga steckt seinen Kopf herein, zeigt auf eine der Taschen und fragt: „Hast du für mich Geschenke dabei? Hat dir James geschrieben, was ich möchte?“ Dabei macht er ein Gesicht wie ein [unee vor dem Weihnachtsbaum. Ich muss lachen und teile ihm stolz mit, dass eine der beiden Taschen ausschließlich Geschenke für die Familie enthält. Er müsse sich jedoch etwas gedulden, da ich die Geschenke erst morgen in Ruhe verteilen möchte, wenn uns nicht mehr so viele Zuschauer beobachten. Diesem Argument kann er sich nicht verschließen. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit brechen wir auf und tragen gemeinsam die schwere Tasche zum Kral, wo uns James bereits erwartet.
Im Kral
Mittlerweile sind mindestens sechzig meist weiße Ziegen in den Kral zurückgekehrt und es herrscht rege Betriebsamkeit. Die kleinen Zicklein schreien nach ihren Müttern, die wiederum blökend im Kral herumrennen, wenn sie nicht gerade gemolken werden. Überall sind Frauen oder Mädchen dabei, Ziegen zu melken. Sie klemmen sich jeweils ein Hinterbein der Ziege in ihren Schoß, halten eine Emailletasse oder eine Kalebasse unter den kleinen Euter und melken, während das dazugehörige Zicklein an der anderen Zitze saugen darf.
Diese Zeir, wenn Tiere und Menschen nach Hause kommen, ist die schönste und lebendigste in einem Kral.
Mama setzt sich immer eine halbe Stunde, bevor die Ziegen nach Hause kommen, erwartungsvoll vor die Manyatta. Meistens sitzen mehrere Frauen bei ihr. Sobald sie die erste gemolkene Milch bekommen hat, bereitet sie Chai für das Hütekind zu und anschließend kocht sie für zahlreiche Kinder und sich selbst Ugali — das immer gleiche Abendessen.
Klaus filmt die verschiedenen Szenen im Kral. Als die Kinder mitbekommen, was er macht, werden sie nach und nach zutraulicher und führen ihm Kunststücke vor, indem sie die kleinen Zicklein einfangen und auf dem Arm herumtragen. Sogar die dreijährige Saruni springt hinter einem Geißlein her, packt es am hinteren Lauf, schlingt gekonnt ihte kleinen Ärmchen um alle vier Beine, stemmt anschließend das Tierchen in die Höhe und schaut Klaus triumphierend an. Er weiß bald nicht mehr, wo er zuerst filmen soll. Als er den Kindern dann noch auf seinem kleinen Monitor die Filmaufnahmen zeigt und sie sich zum ersten Mal so sehen, sind sie ganz aus dem Häuschen. Innerhalb kürzester Zeit ist er umlagert von Groß und Klein und jeder möchte einen Blick auf den kleinen Bildschirm der Kamera werfen. Die Neugier ist stärker als die Scheu und das Eis ist gebrochen.
Während ich dem lustigen Treiben zuschaue, kommt plötzlich Lketingas jüngere Schwester auf mich zu. Sie begrüßt mich überschwenglich. Sie war mit einem Teil der Ziegen unterwegs und ist erst jetzt zurückgekommen.
Natürlich fragt sie nach Napirai und auch ihr muss ich alles über mein Kind erzählen. Ich mochte sie immer sehr gerne. Sie wurde als junges Mädchen mit einem sehr alten Mann verheiratet. Als sie ihr erstes Kind bekam, starb er. Seitdem lebt sie allein und bekam noch einige Kinder, ohne jedoch jemals wieder heiraten zu dürfen. Sie war immer sehr lustig und scheint es auch heute noch zu sein. Immer wieder umarmt sie mich und reibt ihren Kopf an meinem Hals.
Lketinga kommt herbei und unterbricht die Gefühlsausbrüche seiner Schwester, indem er meinen Arm packt, mich hinter sich herzieht und in ernstem Ton sagt: „Schau, welche Ziege ich für dich schlachten werde!“ Papa Saguna und James gehen bereits diskutierend durch die große Herde und schieben da und dort eine Ziege zur Seite. Lketinga mischt sich ins Gespräch ein und wir drei Weißen fühlen uns angesichts des baldigen Todesurteils etwas hilflos. Schon ist die Entscheidung gefallen. Es soll der größte Ziegenbock sein.
Lketinga packt das Tier an den Hörnern und zieht es aus der Herde. Zuerst läuft es ruhig mit, doch plötzlich blökt es lauthals los. Das Schreien geht einem durch Mark und Bein. Während die anderen Ziegen wiederkäuend dastehen, versucht sich der Bock zu befreien, als ob er ahnen würde, dass sein letztes Stündchen geschlagen hat.
Albert verlässt den Kral und möchte erst wiederkommen, wenn alles vorbei ist.
Lketinga packt im Vorbeigehen mit seiner freien Hand erneut meinen Arm und sagt: „Komm mit und schau zu, es ist deine Ziege!“ Ich weiß, dass es eine Ehre ist, als Frau dabei sein zu dürfen, und lasse mir nichts anmerken, während ich das Tötungsritual verfolge. Papa Saguna packt mit einem gekonnten Griff das Tier an allen vier Beinen und wirft es seitwärts auf den Boden. Sofort presst Lketinga dem Ziegenbock Nase und Maul zu, um ihn zu ersticken. Das Tier zuckt und ruckt und schluckt und möchte sich befreien. Der Bauch hebt und senkt sich und ich habe das Gefühl, es dauert eine Ewigkeit. Gott sei Dank ist es bereits dunkel und nur der Mond erhellt das Geschehen. Es ist Samburu-Sitte, dass kein Blut fließen darf, bevor ein Tier tot ist.