Während dieses Ersticken lautlos vor sich geht, läuft das Leben rund herum normal weiter. Einige Kinder jagen weiterhin kleine Zicklein, während andere das Ereignis gelassen beobachten. Endlich zuckt die Ziege zum letzten Mal und Papa Saguna bittet Shankayon, ein scharfes Messer und eine Schale zu holen. Er schärft das Messer an einem Stein und öffnet anschließend mit einem gekonnten Schnitt die Halsschlagader. Sofort fließt das Blut und die dafür unterlegte Schale füllt sich langsam mit der warmen Flüssigkeit, während der Kopf der Ziege weit nach hinten gekippt gehalten wird. Die gelben Augen des Tieres sind starr zum Himmel gerichtet.
Neckisch fragt Lketinga, ob ich Blut trinken wolle. Als ich dankend ablehne, bietet er es auch Klaus an, der allerdings bereits von dem, was er bisher gesehen hat, genug hat. James trägt die Schale weg und im dunklen Hintergrund erkenne ich undeutlich zwei Krieger, die ihm folgen. Verwundert frage ich Lketinga, warum er das Blut nicht trinke. „Weil ich kein Krieger mehr bin“, ist die spontane Antwort. Jetzt hievt er das tote Tier auf ein Wellblech und sein älterer Bruder trennt das Fell an der Innenseite der Bauchdecke von der Brust bis zu den Geschlechtsteilen mit einem Schnitt auf. Anschließend schneidet er die vier Beine der Länge nach auf. Die kleinen Mädchen helfen ihm dabei. Die eine hält eine Taschenlampe, die andere das jeweilige Bein.
Jetzt beginnt die Häutung der Ziege. Dazu braucht er kein Messer mehr. Mit der einen Hand zieht er an dem Fell, während er mit der anderen den toten Körper nach unten drückt.
So löst sich das Fell schnell und problemlos vom Fleisch. Fasziniert sehe ich zu, da diese Szene ohne Blutvergießen vor sich geht. Es dauert keine zwanzig Minuten, bis das Tier vollständig enthäutet vor uns liegt.
Nun wird der Bauch geöffnet und Gedärme und Innereien quellen heraus. Papa Saguna trennt alles säuberlich und legt die einzelnen Teile auf das Wellblech. Da ich von früher weiß, wie schrecklich der Darminhalt riecht, entferne ich mich nun auch. Schließlich will ich später ja noch von diesem Fleisch essen.
Ich setze mich zu den anderen ins Haus und trinke heißen Chai aus der Thermoskanne. Der kleine Albert rennt sofort wieder hinter seine Mutter und schaut mich mit erschreckten Augen an. James beginnt zu erzählen, wie die Einheimischen hier in Barsaloi reagiert haben, als ich nicht sofort im Dorf erschienen bin. „Weißt du, die meisten glaubten sowieso nicht, dass du nach vierzehn Jahren wieder hierher kommen würdest. Als dann nur Klaus ausgestiegen ist, dachten sie, dies sei der Beweis dafür. Jetzt erscheint ein Mzungu, um mitzuteilen, dass Corinne doch nicht kommen wird. Aber ich beruhigte sie und erklärte ihnen, dass du noch die Schule besuchst.
Dann hörte ich, wie sich die Leute unterhielten und zueinander sagten: Sie kommt wie eine Königin mit zwei Wagen, die noch dazu von Chauffeuren gelenkt werden. Zuerst erscheint nur ein Auto, aus dem ein Weißer aussteigt, um die Situation abzuklären und um eine Kamera aufzustellen. Erst eine ganze Weile später erscheint sie dann selbst. Für alle war klar: Only a Queen is moving in this way.“
Wir brechen in lautes Gelächter aus. Mit einer Königin verglichen zu werden, habe ich nun wirklich nicht erwartet, obwohl mir natürlich klar war, dass wir mit zwei so großen Geländewagen einschließlich Fahrern Aufsehen erregen würden. Schließlich kannten sie mich als Selbstfahrerin in unserem klapprigen Land Rover.
James wiederholt die Geschichte ein paar Mal und erntet immer fröhliche Heiterkeit. Heute Nachmittag habe er auch gehört, dass sogar die Leute, die mich nicht gekannt, sondern nur von mir gehört haben, sich über meinen Besuch freuen.
Draußen, wo der Vollmond und Tausende von Sternen den Nachthimmel erleuchten, ist von der Ziege nichts mehr zu sehen. Stattdessen sitzt Lketinga bereits an einer Feuerstelle und grillt einige Fleischstücke auf einem Rost. Es ist genau festgelegt, welche Teile die älteren Männer bekommen, welche Stücke an die Frauen gehen und welche wiederum von den unbeschnittenen Mädchen und Jungen gegessen werden dürfen. Ich erinnere mich, dass die Innereien, die Füße und der Kopf immer bei Mama in der Manyatta gekocht wurden. Ich setze mich zu Lketinga ans Feuer und schaue auf die brutzelnden Fleischstücke. Kaum zu glauben, dass diese Ziege vor einer Stunde noch quicklebendig vor uns stand.
Wir versuchen uns zu unterhalten, aber es ist nicht ganz einfach, den passenden Gesprächsstoff zu finden. Als ich mit ihm über mein Buch sprechen möchte, blockt er ab und meint: „Später, nicht jetzt.“ Versuche ich, etwas über die Zeit nach meinem Weggang zu erfahren, sagt er: „Über die Zeit in Mombasa möchte ich nicht mehr sprechen, sonst werde ich gleich wieder verrückt. Ich habe mein Leben völlig geändert. Ich trinke nicht mehr und bin zufrieden. Ich habe drei Frauen und keine Probleme.“ Na ja, mich kann er eigentlich nicht mehr als seine Frau betrachten, doch im Moment möchte ich keine Diskussion darüber anzetteln. So erzähle ich ihm von unserer Tochter Napirai, was sie in der Schule macht, welche Fächer sie liebt und welche nicht. Dass sie vielleicht lieber arbeiten möchte, als jahrelang zur Schule zu gehen. Das versteht er natürlich sofort und stellt fest: „Yes, she is clever like me.“
Auch in den Manyattas wird Fleisch zubereitet, überall quillt Rauch heraus. Allmählich verspüre ich einen richtig guten Appetit und freue mich darauf, in ein großes, wenn auch sicher eher zähes Stück Fleisch zu beißen.
Endlich ist es so weit. Wir sitzen in James' Haus und auf dem Tisch steht ein Blechtopf gefüllt mit vielen Fleischteilen. Jeder greift zu. Die einen nagen an Rippenknochen, andere beißen kräftig in ein Schenkelstück. Mir schmeckt es ausgesprochen gut, während Albert und Klaus nur so viel verzehren, wie es die Höflichkeit erfordert.
Nach dem reichhaltigen Ziegenschmaus machen wir uns langsam auf den Weg zu unseren Schlafplätzen. Von den vielen Eindrücken und der langen Reise sind wir müde und erschöpft. Lketinga begleitet uns bis zur Mission, wo wir uns für morgen zum Tee verabreden.
Albert, Klaus und ich setzen uns noch einen Augenblick auf unsere Campingstühle, um das Erlebte Revue passieren zu lassen. Die Fahrer machen auf den gefüllten Kühlschrank im Wagen aufmerksam und so ist es schnell beschlossene Sache, einen Gin Tonic zum Abschluss des Tages zu trinken. Wir sind nur wenige Schritte vom Dorf entfernt und dennoch kommt es mir vor, als sei ich soeben wieder in eine andere Welt eingetaucht. Ich sitze bequem auf einem Campingstuhl, halte einen gekühlten Drink in der Hand, sehe in zwei weiße Gesichter und spreche deutsch. Für einen Moment kommt mir alles unwirklich vor. Aus solch einer Perspektive habe ich Barsaloi noch nie erlebt!
Klaus reißt mich aus meinen Gedanken, indem er zu erzählen beginnt, wie seine Begegnung mit Lketinga verlaufen ist, bevor wir ins Dorf gekommen sind. Als er aus dem Wagen stieg, erkannte er in einiger Entfernung unter einer Akazie Lketinga. James stand bei ihm, wechselte ein paar Worte mit ihm und verschwand dann in seinem Haus. Klaus kam sich etwas verloren vor und wusste nicht so recht, wie er sich verhalten sollte. Mutig schulterte er seine Kamera und ging auf Lketinga zu. Als er versuchte, sich vorzustellen, musterte ihn Lketinga kurz mit regungslosem Gesichtsausdruck, um gleich darauf, ohne ein Wort zu sagen, weiterhin stur die Straße in Richtung Fluss hinunterzuschauen. Klaus kam sich vor wie bestellt und nicht abgeholt. Nach einer Weile, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam, hörte er in vorwurfsvollem Ton: „You arelate!“ Erleichtert, vielleicht endlich in ein Gespräch kommen zu können, begann er eifrig, unsere Verspätung zu erklären, wurde jedoch ungnädig unterbrochen: „I know everything.“ Dabei traf ihn ein vernichtender Blick. Jetzt wurde es ihm wirklich unheimlich und er dachte sich: Oh Gott, was ist, wenn Corinne hier aussteigt? Wie können wir das hier mehrere Tage aushalten, wenn er jetzt schon so reagiert? Nach weiteren langen Minuten hörte er in einem milderen Ton die Frage: „Do you have a cigarette?“