Auch das schöne königsblaue Schultertuch findet große Anerkennung. Sie ist zufrieden. Der mir unbekannte Bruder bekommt eine Decke, die Schwester und James' Frau erhalten je einen Rock und einen Kanga. Lketinga verfolgt alles ganz genau und fragt lachend, ob ich denn für ihn auch noch etwas in der mittlerweile fast leeren Tasche habe. Ich überreiche ihm zunächst eine rot-gelbe Decke, die lebhaftes Interesse weckt, und einen Rock für seine Frau. Ich wusste ja nicht, dass er nun zwei Frauen hat. Da keine von beiden anwesend ist, muss er wohl selber entscheiden, wer das Geschenk bekommt. Die Männer erhalten Hemden, Lketinga natürlich ein rotes. Es folgen einfachere Uhren für meinen ExMann und seine Frau sowie James und Stefania, und damit ist zumindest meine Tasche leer.
Doch auch Albert hat ganz persönliche Geschenke für die Familie. Alles wird mit großem Staunen begutachtet und die Augen der Beschenkten leuchten wie bei Kindern unterm Weihnachtsbaum. Als mein Verleger für James und Lketinga zwei Ferngläser auspackt, wissen sie zunächst nichts damit anzufangen. Also geht Albert mit den beiden nach draußen und zeigt es ihnen. James hält sich das Fernglas vor das Gesicht, dreht an den Rädchen und ruft plötzlich ganz aufgeregt: „Ich sehe dort drüben am Berg eine Manyatta und davor liegen zwei Ziegen! Ich sehe es so deutlich, als wäre es unser Nachbar. Unglaublich!“ Auch Lketinga probiert seines geduldig aus, bis es schließlich auch bei ihm funktioniert. Nun stehen beide da, halten ihre Ferngläser vor die Augen und reden aufgeregt in ihrer für uns unverständlichen Maa-Sprache. Es sieht so komisch aus, dass wir alle loslachen müssen. Sogar die sonst so zurückhaltende Stefania möchte einmal hindurchschauen. Von den Kindern ganz zu schweigen. Sicher sind das die aufregendsten Geschenke, die sie heute bekommen haben!
Als sich alle beruhigt und wieder im Haus versammelt haben, packe ich als Letztes den Radio-Recorder aus, um die von meiner Schweizer Familie besprochene Kassette abzuspielen. Plötzlich wird es ganz still im Raum und alle lauschen den Worten meiner Mutter, ihres Mannes Hanspeter und meiner Geschwister. Bei den lauten Worten meines Bruders müssen alle lachen. Lketinga erkennt die Stimme sofort und nickt, während er mit seiner kratzigen Stimme fröhlich sagt: „Yes, I remember Jelly and Eric, really, I remember.“ Nach einer kurzen Pause hört er zum ersten Mal seine Tochter Napirai sprechen. Voller Spannung sitzt er kerzengerade auf seinem Stuhl und lauscht mit bewegungslosem Gesicht ihren Worten. Als zum Schluss Schweizer Handorgelmusik ertönt, schaut er mich an und sagt: „Okay, it's okay! I remember all and I wait for my child.“
James ist begeistert und bedankt sich freudig, obwohl er bemerkt, dass das Gerät mit acht Batterien zu betreiben ist, was hier in Kenia sehr teuer wird. Nachdenklich stellt er fest, dass nicht einmal die Schule ein so tolles Gerät besitzt. Das CD-Fach muss ich ihm erst erklären, denn so etwas hat er noch nie gesehen. Mama kehrt wieder zu ihrer Manyatta zurück. Die anderen begutachten ihre Geschenke. Die Uhren und Ferngläser werden verglichen und die verschiedenen Stoffe befühlt.
Leider stehen noch einige Kinder da, für die ich keine Kleidchen dabei hatte, weil ich einfach nicht wusste, dass sie auch hier im Kral leben und zum Teil von James miternährt werden. Sie erledigen Arbeiten im Haus und bekommen dafür Kost und Logis, damit sie tagsüber die Schule besuchen können. Offensichtlich schicken Eltern, die weit weg leben, ihre Kinder zu Verwandten ins Dorf, damit der Schulbesuch überhaupt möglich wird.
Mir bricht es das Herz, dass ich ihnen außer ein paar Süßigkeiten nichts in die Hände drücken kann. Zu Hause liegen so viele Sachen herum, aus denen Napirai herausgewachsen ist. Hier wäre jedes Kind überglücklich darüber, selbst wenn das jeweilige Kleidungsstück zu klein oder zu groß wäre. Lketinga beruhigt mich und meint, ich solle mir keine Gedanken machen, für die Kinder sei das vollkommen in Ordnung.
In etwa zwei Stunden werden die Tiere nach Hause kommen. Vorher möchte ich mich in unserem Camp noch bei Tageslicht und der wärmenden Sonne endlich etwas waschen. Lketinga organisiert sofort ein Plastikwaschbecken, indem er ein kleines Mädchen in eine nahe gelegene Manyatta schickt. Es ist schön zu beobachten, wie alle sich gegenseitig aushelfen. Mir ist das auch wieder in Mamas Hütte aufgefallen. Als wir bei ihr gemeinsam Chai tranken, hatte sie natürlich keine sechs Tassen. So schickte auch sie ein kleines Mädchen zu den Nachbarn, um sich welche auszuborgen.
Genau für solche Handreichungen ist es üblich, dass bei der Großmutter immer ein kleines Mädchen lebt.
Traditionell wird meistens das erstgeborene Mädchen ihrer jeweiligen Kinder von ihr groß gezogen. Zur Zeit hilft ihr Shankayon viel, wenn sie von der Schule zurück ist. Seit ihre Mutter vor ein paar Monaten weggegangen ist, lebt sie bei ihrer Großmutter. Lketinga kann nicht sagen, wann und ob seine Frau zurückkommt. Sie sei aufgrund der vielen Fehlgeburten immer noch krank. Natürlich hat das kleine Mädchen auch ihren Vater hier.
Doch ich beobachte, dass Lketinga sich nicht so viel mit seiner Tochter beschäftigt wie James es tut. Ich kann mich erinnern, dass er bei seiner ersten Tochter Napirai wesentlich aufmerksamer war, obwohl sie damals noch ein Kleinkind war. Mit Babys haben nämlich Väter normalerweise relativ wenig zu tun. Auch James hat sein letztgeborenes Kind vor uns nicht einmal begrüßt oder herumgetragen, im Gegensatz zu Little Albert und Saruni.
Das Mädchen kommt nach kurzer Zeit mit einem Waschbecken zurück und Lketinga reinigt es mit etwas Wasser, bevor er es mir überreicht. Wieder bin ich gerührt, wie fürsorglich er mich behandelt. Ich bedanke mich bei ihm und mache mich auf den Weg.
Im Camp ist alles ruhig und so fülle ich das Becken mit Wasser und suche eine Stelle, an der ich mich waschen kann, möglichst ohne gesehen zu werden. Minuten später fühle ich mich sauber und in frischen Kleidern wie neu geboren. Gerade will ich mich wieder auf den Weg zum Kral begeben, als mich eine Stimme aus der Mission ruft. Es ist die mir von früher bekannte Angestellte. Während ich mich mit ihr unterhalte, spricht sie meine Waschsituation an und meint: „Corinne, wasch dich nicht hier draußen, das gehört sich nicht für eine Frau.
Komm doch das nächste Mal einfach in die Mission, da kannst du duschen.“
Erfreut bedanke ich mich für das unverhoffte Angebot und erkundige mich, wie es möglich sei, Pater Giuliani zu erreichen, da wir ihn in ein paar Tagen gerne besuchen würden. Sie erzählt, dass immer noch die Möglichkeit bestünde, zweimal täglich in Funkkontakt mit ihm zu treten, entweder am frühen Morgen um sieben oder abends um sechs Uhr. Wir könnten jederzeit vorbeikommen, um ihr Funkgerät zu nutzen. Froh über diese Neuigkeiten kehre ich zu den anderen in den Kral zurück.
Klaus ist mit seiner Filmkamera mittlerweile zum Mittelpunkt des Krals geworden. Allen bereitet es einen riesigen Spaß, sich auf dem Monitor zu sehen. Viele haben sich ja noch nicht einmal in einem Spiegel gesehen.
Deshalb sitzt Klaus häufig mit seinen hellen Hosen am Boden und um ihn und den Monitor drängen sich ständig mindestens acht Köpfe. Zwei Tage später fragt Lketinga schelmisch, warum Klaus immer noch seine schmutzigen Hosen trägt, während er selbst sich täglich für uns umzieht.
Leben im Kral
Ich begebe mich zu Mamas Manyatta. Sie sitzt vor der Hütte und um sie herum sind etliche Frauen versammelt.
Wieder werde ich herzlich begrüßt und schüttle viele Hände, während ich in lachende Gesichter jeden Alters schaue.
Etwas abseits sitzt eine Frau mit einem Baby und schaut zu mir herüber. Sie kann nicht besonders alt sein, obwohl ihre Stirn voller Falten ist und unter ihren Augen tiefe dunkle Ringe liegen. Wenn ich sie betrachte, schaut sie sofort weg und spricht keinen Ton. Irgendwie kommt sie mir aber bekannt vor. Es dauert eine ganze Weile, bis ich mich betroffen erinnere, dass sie das Mädchen ist, deren Beschneidung ich miterlebt hatte.