Alle diese Aussagen machen mich traurig, obwohl ja auch wir moderne Gegenstände hierher gebracht haben.
Jetzt wird mir bewusst, dass ich keine jungen Mädchen oder Krieger gesehen habe, die noch die volle und ursprüngliche Pracht an Schmuck und Farben tragen, wie es noch vor vierzehn Jahren üblich war. Gerade diese fröhlichen und intensiven Farben des Schmuckes und der Kangas verkörpern die Heiterkeit und das intensive Lebensgefühl dieser Menschen. Sollte mit der Zeit das schöne Rot und das satte Blau und Gelb der Tücher und Decken weichen und sich stattdessen die europäische Eintönigkeit der Kleidung breit machen, wie wir dies bereits in Maralal gesehen haben, werden wohl auch der Optimismus und die Fröhlichkeit der Menschen schwinden. Nicht wenige konsumieren bereits heute Alkohol in rauen Mengen. Von den Jugendlichen haben zwar viele mittlerweile eine Schulausbildung, aber zum Erlernen eines Berufes oder zum Studieren fehlt ihnen das Geld. So leben sie mit dem erworbenen Wissen und einer eher westlichen Einstellung in ihrer Kultur und geben die traditionelle Lebensweise immer häufiger auf. Mir scheint, als verlören sie dabei ihre Wurzeln.
Je länger wir uns unterhalten, desto gelöster wird die Stimmung, so dass ich es wage, Lketinga noch einmal zu fragen, wie es damals für ihn war, als er erfuhr, dass ich nicht mehr zurückkehren würde. Er schaut mich an und sagt ernst: „Ich habe es lange nicht geglaubt, weil du vorher immer zurückgekommen bist. Ich hatte bald Probleme mit dem Shop, weil kein Geschäft mehr zu machen war und ich deshalb Geldsorgen bekam. Alle wollten mich betrügen. Als auch noch das Auto gebrannt hat, hatte ich kein Geld, es reparieren zu lassen.
Deshalb verkaufte ich das große Auto und bekam dafür ein kleineres. Mit diesem fuhr ich Taxi, bis ich einen Unfall hatte und ins Gefängnis musste. Ich hatte wirklich viele Probleme und möchte gar nicht mehr daran denken.“
James ergänzt: „Ja, als ich drei Jahre, nachdem du in die Schweiz zurückgegangen warst, davon hörte, fuhr ich wieder nach Mombasa, um ihn zu suchen. Lketinga ging es sehr schlecht, als ich ihn fand. Ich bat ihn, mit mir nach Hause zu kommen, was er auch wollte. Wir verabredeten uns für den nächsten Morgen, um mit dem Bus gemeinsam nach Maralal zu fahren. Doch er kam nicht und ich fuhr allein zurück, denn ich musste wieder mit der Schule beginnen. Als ich aber einen Tag danach in Maralal auf eine Mitfahrgelegenheit nach Barsaloi wartete, kam Lketinga plötzlich ganz allein daher und wir gingen zusammen nach Barsaloi. Er hatte natürlich kein Haus, wo er bleiben konnte, und auch sonst nichts, außer vielen Tieren. In all den Jahren, in denen er nicht zu Hause war, hatte sich seine Ziegen- und Kuhherde sehr vergrößert. Unser älterer Bruder hat sein Vieh gehütet. Es ist bei uns üblich, dass die Tiere eines anderen nicht geschlachtet oder verkauft werden.
Auf diese Weise war Lketinga trotz allem reich, als er nach Hause kam. Wir beschlossen, dass es das Beste wäre, wenn er eine Frau sucht, die ein Haus bauen und Kinder bekommen kann. So heiratete er nur einen Monat später seine zweite Frau, Mama Shankayon. Sie bekam aber nach dem ersten Kind viele Probleme. Alle weiteren Kinder sind gestorben. Jetzt ist sie zurück nach Hause zu ihren Eltern gegangen und wir wissen nicht, wann sie wiederkommt.“
Lketinga nickt abwesend und Mama hört stumm zu. Ich spüre deutlich, dass mein Ex-Mann über seine Vergangenheit nicht mehr sagen kann oder will. Stattdessen erwähnt Lketinga wieder das Buch und den Film und fordert James auf, uns über die Vorkommnisse hier in Barsaioi aufzuklären. So beginnt James, etwas ausführlicher zu erzählen: „Ja, wie ihr wisst, kommen immer wieder fremde Leute hierher, meistens Journalisten aus Kenia. Sie wollen erfahren, ob wir den Inhalt des Buches kennen. Ob wir wissen, dass diese Corinne die Samburu schlecht gemacht hat und viel Geld dafür bekommt. Doch wir sagen immer, dass wir den Inhalt des Buches kennen und auch wir Geld bekommen und keine Probleme haben. Sie hat über unsere Familie geschrieben und nur wir können beurteilen, ob es gut oder schlecht, richtig oder unwahr ist. Wir haben sogar bei einem kenianischen Botschafter, der ein Samburu ist und deutsch spricht, nachgefragt und er hat uns ebenfalls versichert, dass alles in Ordnung ist. Wenn sie das hören, ziehen die meisten Journalisten wieder ab. Es gibt aber auch welche, die unbedingt wollen, dass wir etwas Schlechtes über das Buch oder den Film sagen, und wollen uns Geld dafür geben. Einer von ihnen hat sogar zu Lketinga gesagt, er müsse zum District-Officer gehen und verlangen, dass man diese Corinne in der Schweiz ins Gefängnis bringen müsse. Da ist Lketinga sehr böse geworden und hat sie aufgefordert, ihn in Ruhe zu lassen. Doch er wurde weiterhin belästigt.“
Lketinga mischt sich ins Gespräch und bestätigt: „Yes, die waren wirklich verrückt. Ich habe ihnen immer wieder gesagt, dass ich das nicht will. Dass du meine Frau bist und es in Ordnung ist, wenn du ein gutes Leben in der Schweiz führst. Ich möchte auch, dass es meinem Kind gut geht. Mir geht es gut und ich brauche nicht so viel zum Leben wie du in der Schweiz. Du hast ja auch keine Kühe und Ziegen. Aber diese Leute haben nicht aufgegeben, bis ich ihnen drohte, sie zu verprügeln, wenn sie nicht verschwinden, denn sie haben die Menschen hier in Barsaioi verunsichert.“ James fügt hinzu: „Auch unser Priester, der das Buch in Spanisch gelesen hat, hat mit den Leuten gesprochen und ihnen gesagt, dass nichts Schlechtes in dem Buch steht. Nun ist alles wieder normal hier und alle freuen sich sehr, dass ihr, du und der Verleger des Buches, hierher gekommen seid.“
Nun kriecht auch Albert in die Manyatta und erklärt, dass er mich schon lange kenne und wisse, wie sehr ich an meiner afrikanischen Familie hänge und wie besorgt ich war, als es ihnen nicht gut gegangen ist. Unser gemeinsames Schicksal beschäftige ihn und seine Familie bereits viele Jahre und deshalb fühle auch er mit den Menschen hier in Barsaioi eine enge Verbundenheit. Für ihn sei es sofort klar gewesen, dass er diese Reise antreten würde, denn er wollte die Familie und die wunderbare Mama wiedersehen. Auch ihm sei es ein Anliegen, zu helfen, wo er könne. James übersetzt für Mama und sie bedankt sich bei Albert mit einem Händedruck und den Worten "Asche oleng“.
Zum Schluss möchte Albert von Mama wissen, was sie von ihrer Zukunft erwarte oder sich wünsche. Sie denkt kurz nach und antwortet: „Es geht mir wirklich gut. Ich wünsche mir, dass ich gesund bleibe und meine Augen noch lange sehen können. Aber auch wenn ich einmal blind werde, möchte ich weiterhin ein so gutes Leben führen wie jetzt und hoffe, dass es immer so bleibt. Mehr brauche ich nicht.“ James bestätigt das, indem er erzählt, dass er ihr ein Häuschen bauen lassen wollte, doch sie hätte abgelehnt. Sie möchte nur in ihrer Manyatta sein und ist glücklich, dass nun alle wieder zusammen sind. Manchmal verlässt sie drei Tage die Hütte nicht, ist aber zufrieden, weil immer Kinder oder Besucher bei ihr sind. Es ist schön zu sehen, dass nach wie vor die alten Menschen so gut ins Alltagsleben integriert werden.
Lketinga, nach seinen Wünschen befragt, erklärt zu meiner Verwunderung: „Ich möchte, dass du nicht sagst, dass du nicht mehr meine Frau bist. Das gibt es bei uns nicht. Egal, wo du lebst, du bleibst meine Frau. Ich möchte nicht hören, dass ein anderer Mann bei dir lebt. Es ist okay, aber ich möchte es einfach nicht hören. Ich denke immer daran, dass du meine Frau bist. Ich hoffe, du kommst jetzt öfter, denn Samburu gehen nicht auseinander.“
Diese Worte rühren mich und gleichzeitig fühle ich mich überfordert und etwas eingeengt. So einfühlsam wie möglich versuche ich ihm zu erklären, dass es normal ist, dass ich nach einer so langen Trennung nicht immer alleine bleiben kann. Er habe ja auch wieder geheiratet, und das gleich zwei Mal. Dabei lache ich, um die Situation zu entspannen. Er erwidert: „Ja, es ist in Ordnung, aber sprich nicht mehr darüber.“ Unbewusst hatte ich in keinem meiner Briefe an James erwähnt, dass ich nicht mehr mit meinem letzten Lebenspartner zusammen bin, was im Moment sicher hilfreich ist.