In der Zwischenzeit sind alle Stühle am Feuer belegt und es wird, wie unter Afrikanern üblich, palavert und palavert. Sie haben sich immer irgendwelche Geschichten zu erzählen und dabei geht es meistens fröhlich zu.
Die Film-Mama steht auf, weil sie sich zurückziehen möchte. Morgen ist wieder ein langer Drehtag. Auch ich verlasse den Lagerplatz und nach einigen Verabschiedungen da und dort begebe ich mich in mein Zelt.
Lemalian alias Lketinga
Frühmorgens werde ich von lautem Vogelgezwitscher geweckt. Ich trete vor das Zelt und erlebe gerade noch den Sonnenaufgang. Einige Meter vor mir steht eine Schirmakazie, an deren äußersten Ästen Vogelnester hängen.
Sie sind als runde Kugeln am Ast befestigt und ein kleiner enger Röhrengang führt von unten hinauf. Es sieht lustig aus, wie die Vögel von unten in ihre Nester schlüpfen. An dem Baum hängen sicher drei Dutzend solcher Behausungen und ihre Bewohner fliegen zwitschernd hin und her.
Nach der Morgentoilette schlendere ich zu dem Wagen, in dem sich der Maskenbildner eingerichtet hat, da ich Jacky bei seiner Verwandlung in Lketinga, beziehungsweise Lemalian, auf keinen Fall verpassen möchte. Er sitzt bereits auf seinem Stuhl und begrüßt mich mit einem strahlenden Lachen.
Jacky sei immer guter Laune, obwohl er morgens der Erste und abends der Letzte sei, erzählt mir der Maskenbildner. An der Wand hängt die Perücke mit den langen roten Massai-Zöpfen. Sie sieht erstaunlich echt aus. Ich schaue zu, wie die Verwandlung beginnt.
Zuerst werden Jacky in mühseliger Kleinarbeit die großen Ohrlöcher an seine natürlichen Ohren modelliert, damit die Elfenbeinringe eingesetzt werden können. Irgendwie sieht das braune weiche Teil für meine ungeübten Augen etwas makaber aus, täuschend echt wie ein Stück Menschenohr. Ich bin so fasziniert, dass mir der Maskenbildner das Ohrteil vom Vortag zur Erinnerung schenkt. Mein erster Gedanke ist: Das werde ich Lketinga zeigen. Doch ich verabschiede mich gleich von diesem Vorhaben, da es womöglich wieder viele Diskussionen hervorruft. Wenn es für mich schon täuschend echt aussieht, wie soll ich dann ihm erklären, dass es Materialien gibt, mit denen man alles nachmodellieren kann, und dass es dafür sogar einen eigenen Beruf gibt?
Mit feiner Genauigkeit werden diese Teile mit den echten Ohren verbunden und anschließend nach hinten geklebt. Tag für Tag dieselbe Prozedur! Danach wird die schwere Perücke am Kopf befestigt. Je mehr Jackys Aussehen sich dem eines Samburu nähert, desto besser gefällt er mir. Da jedoch das Ganze schon über eine Stunde dauert, eile ich kurz zum Frühstücksplatz, damit ich noch etwas abbekomme. Als ich eine halbe Stunde später zur Maske zurückkehre, ist Jacky fast fertig hergerichtet. Ein traditioneller Samburu hilft ihm, den Schmuck überzustreifen, und achtet darauf, dass alles genau der Tradition entspricht.
Ja, jetzt gleicht Lemalian Lketinga weit mehr als dem Jacky von gestern Abend. Mit seinem nackten glänzenden Oberkörper, verziert mit Samburu-Schmuck, sieht er wunderschön und faszinierend aus. Seine sanften Augen und das herzliche Lachen verstärken die positive Ausstrahlung. Nun bin ich überzeugt, dass er beim Publikum ankommen wird und meine anfängliche Skepsis ist endgültig verschwunden. Vielleicht ist es für mich sogar besser, wenn er nicht genau wie Lketinga aussieht. So wird es mir leichter fallen, den Film von der Realität zu trennen.
Die Zeit drängt und wir machen noch ein paar gemeinsame Fotos, bevor Jacky zum heutigen Drehort im Shop gefahren wird. Dort wird eine Szene gedreht, in der Carola — so mein Filmname — bereits im sechsten Monat schwanger ist. Ich bin gespannt, wie Nina mit „Babybauch“ aussehen wird, aber auch, wie die Filmleute unseren ehemaligen Shop, das Dorf Barsaloi und die Mission nachgebaut haben. Direkt beim Drehen wollen sie allerdings ungestört bleiben. Auch wenn ich noch so neugierig bin, kann ich das natürlich gut verstehen.
Das nachgebaute Barsaloi
Bald machen auch wir uns auf den Weg zum Filmdorf. Wir fahren um einen Hügel herum und was ich dann sehe, verschlägt mir den Atem. Das komplette Dorf wurde nahezu naturgetreu nachgebaut. Einige Holzhütten stehen links und rechts der Straße und sehen mit ihren rostigen Dächern und den Wänden, an denen die Farbe abblättert, aus, als hätten sie hier bereits mehr als ein Jahrzehnt gestanden. Das Dörfchen liegt auf einer Anhöhe und die Aussicht über die Steppe ist grandios. Die nachgebaute Mission liegt etwas abseits an einem Hang.
Da auf der anderen Seite im Shop die Dreharbeiten laufen, besichtigen wir zunächst die Mission. Schon von außen hat sie eine gewisse Ähnlichkeit mit der von Barsaloi, vor allem wegen des angelegten Gemüsegartens.
Pater Giuliani liebte seinen Garten, den er täglich mit List und Phantasie gegen fremde Ziegen verteidigen musste. Auch hier ist mit viel Liebe Gemüse und Mais angepflanzt worden, um diesem Detail gerecht zu werden. Die Inneneinrichtung ist eher im Kolonialstil gehalten. Der den Raum dominierende Kamin sieht aus, als wäre er schon unzählige Male benutzt worden. Ein paar alte Stühle um einen großen antiken Tisch, Bücher in Regalen und Heiligenbilder an den Wänden ergeben einen harmonischen Missionsraum. Vor dem Gebäude befindet sich die Kirche. Von hier hat man einen herrlichen Blick über das Dorf. Heute Nachmittag soll hier gedreht werden, erfahre ich vom Produzenten, der sichtlich stolz auf das Gezeigte ist.
Überall stehen Leute herum. Immer wenn gedreht wird, auch wenn der Drehort 300 Meter entfernt ist, wird durch ein Megaphon dringend um Ruhe gebeten. Deshalb sind sinnvolle Gespräche kaum möglich. Drüben im Dorf vor dem Shop herrscht große Hektik. Plötzlich ruft uns jemand, dass wir ins Dorf kommen können, weil eine Drehpause angesagt ist. Vor den einzelnen Häusern sitzen ein paar einheimische Statisten am Boden.
Was sie wohl über uns Weiße denken? Da fahren eines Tages Mzungus mit Lastwagen vor und bauen mitten in der Steppe in wenigen Wochen ein ganzes Dorf und sogar eine Mission auf. Anschließend sorgen sie mit seltsamen Maßnahmen dafür, dass alles möglichst alt aussieht. Später beobachte ich, wie einheimische Frauen und Krieger für eine Szene sicher zehn Mal von einem Ende der Straße zum anderen laufen, immer und immer wieder dasselbe Bild. Ja, ihre Gedanken würde ich allzu gerne lesen können. Sicher werden sie noch nach 146
Jahren von diesen Dreharbeiten erzählen. Auch die kommende Generation wird diese Geschichte höchstwahrscheinlich in den verschiedensten Versionen zu hören bekommen.
Wir haben den Shop fast erreicht, als Lemalian und Carola herauskommen. Beide sehen toll aus. Nina als Carola trägt die Haare hinten zusammengebunden, genauso wie ich sie damals hatte. Mit dem schwangeren Bauch, dem hellen Blümchenkleid und dem schlichten Massai-Schmuck sieht sie der damaligen Corinne sehr ähnlich, was ich ihr bei der Begrüßung aus tiefster Überzeugung mitteile. Nachdem von uns beiden einige Fotos gemacht wurden, muss sie nach wenigen Minuten wieder an die Arbeit. Kurz vorher erhalte ich noch die Gelegenheit, mich im nachgestellten Shop umzusehen. Alles ist täuschend echt eingerichtet, sogar die alte Waage mit den Gewichtssteinen ist da. Als ich diese nach all den Jahren wiedersehe, erinnere ich mich an die Knochenarbeit, täglich Hunderte von Kilogramm Maismehl, Zucker oder Reis abzuschöpfen. Abends konnte ich mich vor Rückenschmerzen oft kaum mehr bewegen. Der Lohn aber waren die zufriedenen Gesichter der Menschen, weil sie Lebensmittel einkaufen konnten. Meine Erinnerungen werden durch die wieder aufgenommenen Dreharbeiten unterbrochen.
Draußen begebe ich mich mit Klaus auf die Suche nach Foto-Motiven. Eines finde ich besonders reizvoll. Da sitzen zwei sehr alte, traditionell gekleidete Männer. Einer von ihnen trägt einen äußerst originellen „Schmuck“: eine Brille mit Gläsern, die halb so groß wie sein Gesicht sind, und auf dem Kopf trägt er einen lustigen Schlapphut mit Tigermotiv. Ich geselle mich zu ihnen und wir machen ein gemeinsames Foto. Das Gesicht mit Brille lacht mich stolz und fröhlich an. Alte Menschen finde ich immer wieder faszinierend, denn in ihren Gesichtern steht ihr Leben geschrieben.