Wir setzen uns abseits in den Schatten und beobachten noch einige Stunden den Drehort, doch es wiederholt sich immer das Gleiche: sprechen, schweigen, warten, sprechen, schweigen, warten. Nach dem ersten Staunen tritt eine gewisse Eintönigkeit ein, weil man nicht direkt am Geschehen beteiligt ist und davon auch nicht viel mitbekommt. So bin ich froh, dass ich am Nachmittag, als in der Mission gedreht wird, doch noch eingeladen werde, einige Minuten beim Dreh zuzuschauen. Die Regisseurin fordert mich auf, neben der Kamera auf einem Stuhl Platz zu nehmen. Ich habe keine Ahnung, was gedreht werden soll, und warte voller Neugier. Plötzlich springt Lemalian die Stufen zur Mission hoch und der Pater eilt auf ihn zu. Offensichtlich erzählt Lemalian gerade, dass es Carola und dem Baby im Spital gut geht.
Beim Anblick dieser Szene überkommt mich mit aller Macht das heulende Elend. Ich habe das überhaupt nicht erwartet, da ich mich gelassen und ausgeglichen fühlte. Aber in dem Moment, als Lemalian spricht, sehe ich nicht ihn, sondern Lketinga und meine persönliche damalige Situation. Ich bin so durcheinander und aufgewühlt, dass ich den Drehort weinend verlassen muss. Dabei schäme ich mich natürlich vor der ganzen Mannschaft. Eine winzig kleine Episode genügt schon, dass ich die Kontrolle über meine Gefühle verliere. Oh Gott, was kommt da noch auf mich zu, wenn ich erst Carola erleben werde? Eines ist mir jetzt schon klar: Tränen werden fließen.
Zum Glück ist gerade Kaffeepause, so dass draußen kaum jemand meine Betroffenheit mitbekommt. Ich setze meine Sonnenbrille auf und nehme mir einen heißen Tee. Da meine Hände noch zittern, übergieße ich mir zu allem Überfluss die Hand. Der Schmerz lenkt mich zumindest etwas ab.
Nach diesem Erlebnis habe ich plötzlich genug vom Dreh und fühle mich irgendwie fehl am Platz. Ich habe nun alles gesehen, die meisten Schauspieler und Schauspielerinnen kennen gelernt und den Ort als wirklich gelungen empfunden. Da ich zum weiteren Gelingen des Films nichts beitragen kann, ist schnell klar, dass ein längerer Aufenthalt hier am Set keinen Sinn hat. Offensichtlich haben die bewegenden Ereignisse der letzten Tage meinen Gefühlshaushalt etwas durcheinander gebracht. Da kommt die geplante Reise zu Pater Giuliani gerade recht. Seine Gegenwart vermittelte mir schon damals immer eine gewisse Sicherheit. Bei ihm kann ich mich bestimmt emotional etwas erholen, bevor ich in Barsaloi mit dem schmerzlichen Abschied von meiner Familie konfrontiert werde.
Den Rest des Nachmittags unterhalten wir uns in entspannter Atmosphäre mit dem Produzenten und seiner Frau.
Beim reichhaltigen Abendessen bedanke ich mich bei allen für ihre Mühen und vor allem für die Möglichkeit, hinter die Kulissen „meines“ Filmes schauen zu können und drücke mein Vertrauen und meine Überzeugung aus, dass dieser Film viele Menschen berühren wird.
Pater Giuliani
Nach dem Frühstück verlassen wir den Drehort und fahren den dreistündigen Weg zurück nach Barsaloi, wo wir mit Pater Giuliani um zwölf Uhr verabredet sind. Pünktlich fahren wir bei der Mission vor, wo Pater Giuliani bereits auf uns wartet. Er hat sich kaum verändert. Nur seine weißen Haare und etwas mehr Falten im braun gebrannten Gesicht lassen die vergangenen Jahre erkennen. Wie früher besteht seine Kleidung aus kurzen Hosen, Poloshirt und Strandsandalen. Mit einem breiten Lächeln kommt er auf uns zu, um uns zu begrüßen.
Belustigt betrachtet er mich von oben bis unten an und meint: „Was, das soll die Corinne sein, die damals an die Missionstür klopfte?“ Ich muss lachen. Er erlebte mich natürlich in meinen magersten Jahren. Heute lebe ich gesund und fühle mich zwar nicht dick, bin aber auch nicht mehr dünn wie eine Bohnenstange. Auch Albert und Klaus werden herzlich begrüßt, wobei man Pater Giuliani die Freude über einen abwechslungsreichen Besuch anmerkt.
Dann mustert er unsere großen Geländewagen und meint, wir sollten doch nur mit einem fahren. Da die Fahrer aber ihre Wagen nicht aus den Augen lassen, würde das bedeuten, dass einer allein hier bleiben müsste, was wir natürlich nicht wollen. Wir ahnen ja noch nicht, wie beengt es bei Giuliani zugeht. Er erwähnt lediglich, dass seine neue Mission nicht so groß sei wie diese hier. Als ich ihm mitteile, dass ich vor allem seinen schönen Garten mit den Bananenstauden vermisse, erklärt er lakonisch: „Diese neuen Priester haben kein Interesse mehr an Garten und Gemüse. Außerdem können sie selbst keine Autos reparieren, was in dieser Gegend dringend nötig wäre. Na ja, dafür gibt es jetzt ein Schwesternhaus!“
Ich fahre bei Giuliani mit, damit wir uns unterhalten können, muss allerdings feststellen, dass es bei dem Lärm und Gerumpel nicht einfach ist, sich zu verständigen. Im trockenen Bett des Barsaloi-River fahren wir Kilometer um Kilometer den Bergen entgegen. Schon nach einer halben Stunde Autofahrt ist mir die Gegend fremd und neu. Mit Lketinga war ich nie so weit in dieser Richtung unterwegs gewesen. Das Flussbett wird an manchen Stellen bis zu 300 Meter breit und man kann erahnen, wie gefährlich es hier wird, wenn es in den Bergen regnet.
Wir durchfahren verschiedenen Vegetationszonen. Einmal ist die Landschaft eher grün und mit so genannten Daumpalmen und Büschen bewachsen, die ich noch nie gesehen habe. Ein anderes Mal sind an den Ufern steinige dunkle Felshügel zu sehen. Pater Giuliani erzählt, dass man hier Gold vermutet und schon von Bohrungen gesprochen wurde, was eine Katastrophe für diese Gegend wäre.
Er fährt wie früher — zackig und schnell. Ständig schaut er, der 64-Jährige, in den Rückspiegel und lästert: „Wo bleiben denn die jungen Fahrer mit ihren Superwagen?“ Am linken Flussufer sitzt im Schatten eine Gruppe Samburu-Frauen mit vielen Kindern. Sie kochen in einem großen Topf Maisbrei, um ihre Kleinen satt zu kriegen. Giuliani erklärt, dass hier die wenigsten Frauen noch Ehemänner haben, die sie unterstützen. Die meisten seien in die größer werdenden Dörfer oder Städte gezogen und nicht wenige seien dem Alkohol verfallen. Der Pater steigt aus, spricht mit ihnen und drückt das eine oder andere Kind. In unseren europäischen Augen sieht das Bild, wie sie da malerisch im Schatten eines Baumes lagern, bunt und friedlich aus. Aber diese Mütter kämpfen täglich hart ums Überleben, um ihr eigenes und das ihrer zahlreichen Kinder.
Als wir weiterfahren, verändert sich der Untergrund im Flussbett von lockerem, gelbem Sand in ausgetrocknete, aufgeplatzte rote Schlammerde. Es erinnert mich an Tonscherben, die sich durch Hitze nach oben biegen. Diese eindrucksvollen Formen möchte ich gerne fotografieren. Als ich aussteige, stehe ich buchstäblich in einem Glutofen. Ohne Schuhe könnten wir es keine Sekunde auf diesem Boden aushalten. Dennoch sehen wir immer wieder Menschen und Tiere, die in dieser lebensfeindlichen Gegend ihr Dasein führen. Pater Giuliani winkt jedem Kind, jedem Mann und jeder Frau zu und ruft ab und an etwas gegen den Fahrtwind. Man spürt, wie vertraut ihm diese Gegend ist und wie er sie liebt.
Nach gut zwei Stunden verlassen wir das Flussbett und biegen in einen für Unkundige kaum zu erkennenden Naturweg ein. Dieser führt auf eine Anhöhe, die einen grandiosen Blick über die weite Ebene eröffnet. Giuliani hält an, steigt aus dem Wagen und zeigt uns einen Busch, von dem er kleine Weihrauchkugeln abzupft. Dann deutet er auf einen weißen Strich in der Ferne, der senkrecht wie ein Wasserfall über den Berg fällt. „Dort steht meine Mission. Vor ein paar Monaten ist nachts mit mächtigem Donner hinter meinem Haus ein Teil dieses Berges abgebrochen. Seitdem sieht man Sererit schon von weitem. Bei deinem nächsten Besuch musst du nur in diese Richtung fahren“, scherzt er lachend.