Während des Essens wird viel gelacht und geredet. Ich erkundige mich nach Lketinga und James antwortet: „He is not bad in this time.“ Es gehe ihm gut und er habe vor einem Monat wieder ein junges Mädchen geheiratet. Ich bin überrascht, da diese Absicht in keinem der letzten Briefe erwähnt wurde. James erklärt, dass Lketinga sich erst vor kurzem zu einer weiteren Heirat entschlossen habe. Seine erste, beziehungsweise nach mir zweite Frau, sei ständig krank und habe mehrere Fehlgeburten hinter sich. Lketinga hat bis heute in Kenia nur eine Tochter, Shankayon. Er hätte aber gerne mehr Kinder und habe nun lange genug gewartet. Seine kranke Frau sei schon seit ein paar Monaten nicht mehr in Barsaloi, sondern sei zu ihrer Mutter zurückgekehrt.
Das sind in der Tat überraschende und unvorhergesehene Neuigkeiten und ich hoffe, dass mein Erscheinen nicht noch zusätzliche Probleme verursacht. Nachdem ich James meine Befürchtungen mitgeteilt habe, meint er lachend: „Nein, nein, es gibt keine Probleme!“
Er erklärt, dass Lketinga bei meiner Ankunft nicht ohne Frau dastehen wollte, weil dies auf mich vielleicht einen schlechten Eindruck gemacht hätte. Da er sowieso weitere Kinder möchte, sei diese Lösung das Beste. Den ersten Teil der Begründung finde ich zwar etwas weit hergeholt, bin aber dennoch froh, dass Lketinga eine Frau von seinem Stamm an seiner Seite hat. Höchstwahrscheinlich ist sie ein junges Mädchen, nicht viel älter als unsere Tochter Napirai!
Für uns Europäer ist so etwas kaum vorstellbar. Aber in der Kultur der Samburu haben die Männer meist gar keine andere Möglichkeit, als sich junge Frauen auszusuchen. Häufig werden Mädchen mit bis zu vierzig Jahre älteren Männern verheiratet und wenn diese sterben, dürfen die Frauen, auch wenn sie erst zwanzig Jahre alt sind, nie mehr heiraten. Sie können noch Kinder gebären und diese tragen den Familiennamen des Verstorbenen, wissen aber nie, wer ihr wirklicher Vater ist, weil darüber nicht gesprochen wird. Bei den Samburu gibt es normalerweise keine Liebesheirat. Lketingas und meine Ehe war eine große Ausnahme. Ich weiß, dass er dadurch etwas Schönes, Außergewöhnliches erlebt hat, auf der anderen Seite hat es ihn aber auch verwirrt und verunsichert.
Wie wird das wohl mit seiner neuen Frau gewesen sein? Ich bin gespannt. Seine erste Frau kannte ich. Sie hat als Mädchen öfter in unserem Shop Lebensmittel eingekauft. Jahre später habe ich sie auf dem Video, das Pater Giuliani während unseres Hochzeitsfestes gedreht hat, entdeckt und mich sehr darüber gefreut. Ich hätte sie gerne wiedergetroffen, als junge Frau und Mutter von Napirais Halbschwester.
Wir wechseln ins Kaminzimmer und trinken ein letztes Glas Wein. James bleibt bei Cola, da er Wein nicht kennt und mit dem Motorrad nach Maralal fahren muss. Während ich in das knisternde Feuer schaue, höre ich aufmerksam zu, wie James Albert und Klaus von seiner ersten Begegnung mit mir erzählt. Es war vor der Schule in Maralal, nachdem ich Lketinga endlich gefunden hatte. Lketinga führte mich zur Schule, um mir seinen Bruder vorzustellen und ihm mitzuteilen, dass wir nach Mombasa gehen werden. James, damals etwa vierzehn Jahre alt, wurde geholt und kam sehr schüchtern auf uns zu. Sein Blick war gesenkt und er traute sich kaum, uns anzuschauen.
Nun versucht er, seinen damaligen Zustand zu beschreiben: „Ich war sehr verunsichert, weil ich dachte, diese Weiße wäre mein Sponsor. Ich wusste, dass eine amerikanische Lady meine Schule finanzierte, und überlegte, warum sie auf einmal dastand. Was konnte das nur bedeuten? Ich war sehr nervös. Erst als mein Bruder mir erklärte, dass Corinne zu ihm gehöre und hierher gekommen sei, um ihn zu suchen, merkte ich, was los war. Aber auch diese Neuigkeiten erschienen mir verrückt. Mein Bruder mit einer weißen Frau, die bei unserer Mama leben wollte? Da sah ich viele Probleme kommen, weil er nie eine Schule besucht hatte. Er wusste nichts über die weiße Welt und auch alle anderen bei uns zu Hause kannten nur das traditionelle Samburuleben. Es ist etwas anderes, wenn man eine Schule besucht hat, aber so sah ich nur Schwierigkeiten. Lketinga ist älter als ich und war damals ein Krieger. Ich hingegen war noch ein unbeschnittener Schuljunge und konnte einem Krieger nicht sagen, was ich dachte. Ja, und die Probleme tauchten bereits in Mombasa auf und Corinne stand einige Wochen später erneut vor der Schule, diesmal aber allein. Wieder war sie auf der Suche nach meinem damals kranken Bruder. Ich sollte sie nach Barsaloi zu meiner Familie bringen. Ich versprach zu helfen, obwohl es für mich ein großes Problem gewesen wäre, die Schule für ein paar Tage zu verlassen. Bei uns verlässt man die Schule nur in den Ferien oder wenn jemand zu Hause gestorben ist. Es wäre wirklich nicht gut gewesen! Gott sei Dank hat sie dann die Lösung und den Weg allein gefunden.“ Dabei schaut er mich lachend an. Vieles von dem, was er gerade aus seiner Sicht erzählt hat, ist für mich neu und dennoch zieht diese Zeit deutlich vor meinem inneren Auge vorbei.
Morgen ist es so weit. Ich trete erneut die Reise von Maralal nach Barsaloi an und werde Lketinga zum ersten Mal seit meiner Flucht vor vierzehn Jahren wieder gegenüber stehen. Ein mulmiges Gefühl kann ich nicht verleugnen. Das Feuer ist heruntergebrannt und wir alle fühlen uns von der langen Anreise und den ersten Aufregungen etwas erschöpft. Es wird vereinbart, dass wir James morgen früh bei der Post treffen und gemeinsam das Nötigste einkaufen werden.
Wir ziehen uns in die Zimmer zurück und ich freue mich, dass auch hier ein kleines Feuer im Kamin brennt.
Bald liege ich unter einem Moskitonetz im Bett und warte auf den Schlaf. Doch jetzt, nachdem alles um mich herum ruhig ist, merke ich, wie aufgewühlt ich bin. Der Schlaf will nicht kommen, stattdessen steigt eine seltsame Traurigkeit in mir hoch. Je mehr ich nachdenke, desto größer wird meine Panik, dass ich morgen, wenn ich Mama und Lketinga sehe, heulen muss, was kein gutes Zeichen im Sinne der Samburu-Sitte wäre. Man vergießt nur Tränen, wenn jemand gestorben ist.
Ich stehe noch einmal auf, setze mich draußen vor die Türe und lausche in die Stille der Nacht. Bald ist Vollmond. Überall knackt es im Gebüsch, doch sehen kann ich nichts. Ein Affe keckert kurz in der Nähe und plötzlich höre ich aus der Ferne das Singen von Kriegern. Irgendwo da draußen haben sich Dutzende von Kriegern und Mädchen versammelt und tanzen im Licht des Mondes. Durch den Wind werden die Gesänge manchmal lauter, dann wieder leiser. Zwischendurch höre ich deutlich das Stampfen der Füße, das ab und zu durch einen kurzen spitzen Schrei unterbrochen wird. Ich sitze da, lausche und stelle mir vor, wie die schön geschmückten Krieger ihre hohen Sprünge ausführen, während die jungen Mädchen mit dem Kopf und dem schweren Halsschmuck im Takt mitwippen. Solchen Tänzen habe ich früher oft zugesehen, wenn mein Mann tanzte, und jedes Mal war es bewegend und aufregend.
Ich spüre, dass die Traurigkeit und die Unsicherheit gewichen sind und ich mich glücklich und frei fühle. Jetzt bin ich bereit, morgen die Familie zu treffen, und freue mich. Zufrieden schlüpfe ich erneut unters Moskitonetz, schnuppere die leicht rauchige Luft im Zimmer und schlafe bald ein.
Zur verabredeten Zeit treffen wir beim Postamt ein. Sofort sind die jungen Männer von gestern wieder um uns herum versammelt und wollen ihre Geschäftstüchtigkeit erproben. Überraschenderweise bekommt Albert, den wir zu meinem
Schutz als meinen Vater ausgeben, heute einen traditionellen Rungu, einen Schlagstock aus Hartholz, geschenkt.
Erst als James erscheint und ein paar Worte mit den Jugendlichen wechselt, können wir uns einigermaßen in Ruhe auf dem Markt umsehen und für meine Schwiegermama eine schöne, warme Decke aussuchen. Im Gepäck habe ich schon zwei Decken, eine für Lketinga in orangerot, weil er diese Farben mag, und eine andere karierte für seinen älteren Bruder. Die Männer tragen diese auch als wärmende Kleidungsstücke. Mama bekommt für ihre Manyatta eine besonders dicke Wolldecke.