Mit klopfendem Herzen versuche ich, mit den Augen so viel wie möglich zu erfassen. Wo steht wohl Lketinga?
Wo wird er mich empfangen? Steht er im Dorf oder wartet er in einer Hütte, abgeschirmt von all den neugierigen Blicken? Es sind so viele neue Holzhütten entstanden, dass ich gar nicht weiß, wohin ich zuerst schauen soll.
Überall stehen Menschen. Links oben erkenne ich die Mission. Sie erscheint mir kleiner als früher. Auch fehlen die grünen Bananenbäume. Dafür ist die Kirche fertig gestellt. Kinder springen mit etwas Abstand unserem Wagen hinterher.
Da! Endlich entdecke ich unseren zweiten Wagen und das Motorrad von James. Unser Fahrer hält direkt daneben. Als ich etwas benommen aussteigen möchte, schießen mir durch das offene Wagenfenster zwei Arme entgegen und umklammern meinen Hals, während ich gleichzeitig abgeküsst werde. Ich höre immer wieder: „Oh Corinne, oh Corinne!“, und weiß gar nicht, was los ist, geschweige denn, wer mir da am Hals klebt. James eilt herbei und führt den offensichtlich gerührten Mann weg. Lketinga war es auf jeden Fall nicht!
Lketinga
Endlich kann ich aussteigen und habe freie Sicht. Etwa zwanzig Meter von mir entfernt erblicke ich Lketinga unter einer großen Schirmakazie. Lang und stolz steht er mit elegant gekreuzten Beinen in der typischen Massai-Haltung da.
Ich weiß, er wird sich keinen Schritt bewegen. Es gehört sich nicht, dass ein traditioneller Samburu einer Frau entgegenkommt. Also gehe ich unter den neugierigen Blicken der umherstehenden Menschen auf ihn zu. Mein Kopf ist leer. Ich kann nichts mehr denken, sondern höre nur das Pochen meines Herzschlags. Diese wenigen Meter kommen mir unendlich lang und weit vor.
Nach wie vor ist Lketinga sehr groß und schlank. Er stützt den linken Arm in die Hüfte, während er sich mit dem rechten elegant an einen langen Stock lehnt. Über einem roten Hüfttuch und einem gelben T-Shirt trägt er ein großes weißes Schultertuch mit blauen Punkten. Seine Füße stecken wie eh und je in Sandalen aus alten Autoreifen. Neben dem langen Stock hält er noch einen Rungu in der Hand. An der rechten Hüftseite lugt unter dem T-Shirt die rote Lederscheide seines Buschmessers hervor.
Das alles erfassen meine Augen, während ich mich auf ihn zu bewege. Gleichzeitig höre ich, wie er lachend mit seiner leicht rauen, sanften Stimme ruft: „Hey, you are looking big, very big, like an old Mama!“ Diese Begrüßung verscheucht meine Verlegenheit und ich entgegne scherzend: „Auch du siehst aus wie ein alter Mann.“
Bei ihm angekommen, schaue ich in seine Augen und dann geschieht alles irgendwie wie von selbst. Wir liegen uns in den Armen, begrüßen und drücken uns innig und herzlich. Es spielt keine Rolle, dass so etwas hier nicht üblich ist. Es war nicht geplant und gehört einfach wie selbstverständlich dazu. Nach einigen Sekunden löse ich mich von Lketinga und schaue in sein Gesicht. Mit den Augen tasten wir uns gegenseitig ab. Er sieht viel besser aus als noch vor sechs Jahren. Damals traf Albert ihn in Maralal, um das Buch zu überreichen. Die Fotos, die er von dieser Begegnung mitbrachte, haben mich ziemlich erschüttert. Heute hingegen erkenne ich in seinem Gesicht viel von seiner früheren Schönheit. Nach wie vor hat er ein wunderschönes Profil. Seine Gesichtszüge sind fein, die Nase ist nicht groß und die Lippen sind schön und voll. Wenn er lacht, sieht man seine weißen Zähne mit der Zahnlücke blitzen. Die Backenknochen stehen stärker hervor als früher, was die Wangen leicht eingefallen wirken lässt. Auf der hohen Stirn haben sich inzwischen einige Fältchen eingegraben, dagegen ist sein kurzes Kraushaar noch fast schwarz. In den großen, nach Samburu-Sitte gedehnten Löchern seiner Ohrläppchen hängen kleine silbrige Metallringe.
Während wir uns scherzend unterhalten, ergreift er meinen rechten Arm mit der silbernen Armspange, hält ihn hoch und fragt etwas verwundert: „What is this? Warum trägst du nicht mehr die Spange, die ich dir zur Hochzeit gegeben habe? Was ist das hier für ein Armreif und was bedeutet er?“ Etwas überrumpelt antworte ich leicht verlegen, aber lachend: „Du sagst ja selber, dass ich dicker geworden bin. Ich musste unseren Armreif entfernen lassen, denn er war an meinem Arm zu eng.“ Er schüttelt verständnislos den Kopf.
Diese ersten Sekunden haben mich sehr aufgewühlt und ich merke, wie sich langsam meine Augen mit Flüssigkeit füllen. Oh Gott, jetzt nur keine Tränen! Ich wende mich etwas von Lketinga ab, um meine Rührung zu verbergen. Doch Lketinga hat es bereits bemerkt und ergreift erneut meinen Arm:
„Don't cry! Warum weinst du? Das ist nicht gut.“ Ich atme tief durch, beiße mir auf die Lippen und versuche die Kontrolle zu behalten. Jetzt nur keine rollenden Tränen vor all diesen Blicken! Als erwachsene Frau weint man hier nicht. Zur Ablenkung frage ich nach Mama. Lketinga nickt und meint: „Okay, okay, später bringe ich dich zu Mama. Pole, pole — langsam, langsam.“
Erst jetzt bemerke ich etwas abseits Klaus, der alles gefilmt hat. An ihn habe ich gar nicht mehr gedacht!
Allmählich kommt nun auch Albert näher und wird von meinem ExMann mit Handschlag und Lachen freundlich begrüßt. Man sieht Lketinga an, wie stolz er auf seinen Besuch ist. Wie früher bewegt er sich ruhig, graziös und ohne jede Hektik. Die Einzige, die hektisch ist, bin wohl ich. Dennoch bin ich erstaunt, wie problemlos und natürlich, ja fast spielerisch ich mich mit Lketinga unterhalten kann. Es ist, als wären all die Jahre nicht dazwischen gewesen. Wir haben „unsere“ vertraute Sprache, das einfache Englisch durchsetzt mit Massai-Wörtern, sofort wieder aufnehmen können. Auch schwingt in unserer Unterhaltung von Anfang an etwas Neckisches mit und so fragt er mich nun: „Warum hast du deine Haare rot gefärbt wie ein Krieger? Du bist doch jetzt eine old Mama!“ Dabei schüttelt er lachend den Kopf.
Plötzlich werden seine Augen dunkel und zwischen seinen Augenbrauen taucht jene bedrohliche Falte auf, die mir früher immer etwas Unangenehmes ankündigte. Mit ernster Stimme fragt er: „Wo ist mein Kind? Warum ist mein Kind nicht hierher gekommen?“ Mein Herz setzt einen Moment aus, um dann doppelt so schnell weiterzuschlagen. Ich schaue ihm fest in die Augen und erkläre, dass Napirai zur Zeit viel für die Schule arbeiten muss. Bestimmt werde sie aber später einmal, wenn sie alles hinter sich habe, nach Barsaloi kommen. Sein Gesicht entspannt sich, während er mich prüfend ansieht und sagt: „Okay, it's okay. I wait for my child. I really hope that she will come.“
Ich schaue in die Richtung eines langen Gebäudes und erkenne dort Lketingas älteren Bruder, Papa Saguna. Er sitzt mit anderen Männern im Schatten und schaut zu uns herüber. Erfreut winke ich ihm zu, worauf er sich erhebt und auf uns zukommt. Wir begrüßen uns mit einem herzlichen, aber respektvollen Handschlag. Er ist sozusagen das Oberhaupt der Familie, da der Vater nicht mehr lebt und somit sein Wort als Ältester am meisten zählt. Er spricht nur Maa, was den Zugang zu ihm für mich erschwerte. Aber jetzt lächelt er, was mich sehr erleichtert. Früher wusste ich nie, ob er mich mochte oder nicht. In gewisser Weise erschien er mir immer als der Wildeste in der Familie. Wenn er mit seiner rauen Stimme spricht, hört es sich an, als ob er mit jemandem streiten würde. Er hatte uns als Trauzeuge auf unserer Hochzeitsreise nach Mombasa begleitet. Sein kindliches Staunen über das städtische Leben ist mir unvergesslich. In Mombasa erfüllten ihn die vielen halb nackten Touristen und das große Wasser mit Angst. Hier im Busch hingegen ist er sicher der Zäheste der Familie. Dass er hier ist, freut mich besonders. Später erzählt James, dass er trotz Fieber die vier Stunden von seinem Dorf hierher gelaufen ist, um bei meiner Ankunft anwesend zu sein.
Lketinga geht nun auf einen großen gepflegten Kral zu. Er geht uns voraus und ich bin aufs Neue fasziniert, wie dieser Mann sich bewegt. Wir nähern uns einem etwa zehn Meter langen, schmalen, grünen Holzhaus mit Wellblechdach. Es ist das Wohnhaus von James und seiner Familie, wie wir kurz darauf erfahren. Aus allen Richtungen höre ich immer wieder: „Supa, Mama Napirai. Serian a ge? Hallo, Mama Napirai, wie geht es dir?“