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Wir durchschreiten das Dornengestrüpp, das unmittelbar neben dem Haus beginnt. Dieses etwa zwei Meter hohe Gestrüpp dient als Umzäunung und Schutz vor wilden Tieren und umgibt das Anwesen der gesamten Familie.

Tagsüber wird nur ein schmaler Eingang freigelegt, der am Abend nach der Rückkehr der Tiere sorgfältig verbarrikadiert wird.

Alle paar Meter schüttle ich Hände und schaue in die verschiedensten Gesichter. Die meisten sind Frauen. Alle strahlen mich an und fragen neben dem üblichen „Supa“, ob ich mich noch an sie erinnere. Einige erkenne ich auf Anhieb, bei anderen weiß ich im Moment wirklich nicht, wie ich sie einordnen soll. Eine sehr alte Frau mit zahlreichen Zahnlücken begrüßt mich strahlend und spuckt auf meine Hände, sozusagen als Segnung. Ihr altes, faltiges Gesicht erkenne ich deutlich. Sie ist die Mutter des Mädchens, das ich damals einige Stunden nach der Beschneidung in der Hütte besucht hatte. Es wohnte in unserer Nachbarschaft, wurde mit zwölf Jahren verheiratet und, wie bei den Samburu üblich, am frühen Morgen der Hochzeit diesem schrecklichen Ritual unterzogen. Gerne würde ich diese Frau nach ihrer Tochter fragen, denn ich kann mich sehr gut an sie erinnern.

Sie war ein sehr fröhliches Kind. Aber vor allem die älteren Menschen verstehen hier nur die Maa-Sprache, die ich, von ein paar Floskeln abgesehen, leider nicht beherrsche. Plötzlich fühle ich mich hilflos, da ich so viel sagen möchte und doch nur stumm dastehen kann. Mit Mama wird es mir ähnlich ergehen.

James schiebt mich weiter. Im Kral befinden sich noch drei größere Wohnmanyattas sowie zwei kleinere, in denen tagsüber die jungen Zicklein gehalten werden, während ihre Mütter unterwegs auf Grassuche sind. Die Neugeborenen hingegen werden sogar in die Wohnmanyatta mitgenommen. Die Wände einer Manyatta bestehen aus dünnen Holzpfählen, die dicht miteinander verbunden sind. An verschiedenen Stellen blättert getrockneter Kuhdung von den Wänden. Das Dach bilden Ziegenhäute, selbst geflochtene Sisalmatten, einige Säcke und Kartonteile. Alles ist irgendwie ineinander geschichtet, um vor Regen zu schützen. Vor der Hütte liegen meist ein zusammengerolltes Kuhfell, aufgeschichtetes Feuerholz und ovale Weidenholzgeflechte, die bei einem fälligen Umzug als Tragrahmen auf den Rücken von Eseln gebunden werden. Dazwischen muss das gesamte Hab und Gut Platz finden.

Rund um die Manyattas picken Hühner im rotbraunen Sandboden. Ich staune über die Hühnerschar, denn bei den Samburu ist es eigentlich absolut unüblich, Federvieh zu halten. Als ich mit dem ersten Huhn ankam, reagierten alle mit heller Aufregung. Niemand wusste, was ich mit diesem für sie unnützen Tier anfangen wollte.

Sie aßen damals weder Hühnerfleisch noch Eier, und Mama sah deshalb nur das Problem, wie sie es vor wilden Tieren schützen könne. Zusätzlich hatte sie die Sorge, dass das Huhn Raubvögel anziehen würde, was für die kleinen Zicklein gefährlich gewesen wäre. Und nun laufen hier mindestens zehn Hühner herum. Als ich James mein Erstaunen mitteile, meint er schmunzelnd: „Du hast uns doch gezeigt, was wir mit diesen Tieren anfangen können! Meine Frau kocht jetzt ab und zu mit Eiern. Was wir nicht essen, verkaufen wir in unserem kleinen Shop den Missionsschwestern.“ Schon wieder eine interessante Neuigkeit! Zu Pater Giulianis Zeit gab es keine Schwestern hier.

Mama

James unterbricht meine Gedanken und sagt: „Ich zeige dir alles später, denn jetzt begrüßen wir zuerst Mama.

Wir stehen direkt vor ihrer Hütte.“ Dabei zeigt er auf eine mannshohe Manyatta. Gerade möchte ich mich bücken und in den kleinen Eingang kriechen, als James mich zurückhält und flüstert: „Nein, nein, lass Mama herauskommen, sonst könnt ihr euch in der engen Hütte und dem beißenden Rauch gar nicht richtig begrüßen, und Mama hat einen Grund, wieder einmal aus der Hütte zu kommen.“

Er spricht ein paar Maa-Sätze in Richtung des Eingangs und dann höre ich, wie sie sich aufrappelt, um kurz darauf in gebückter Haltung aus der Manyatta zu kommen. Endlich steht sie vor mir — nach über vierzehn Jahren!

Überwältigt stelle ich fest, dass sie sich in der langen Zeit kaum verändert hat. Ich hatte sie mir viel älter und schwächer vorgestellt. Stattdessen steht mir eine stattliche und überaus würdevolle Mama gegenüber. Wir strecken uns die Hände entgegen und, während diese ineinander greifen, schauen wir uns stumm und doch vielsagend an.

Mein Gott, was hat diese Frau für eine Aura! Ich versuche, in ihren leicht trüben Augen zu lesen. Es entspricht nicht der Kultur der Samburu, sich überschwänglich in die Arme zu fallen und Gefühlsregungen zu zeigen.

Starke Gefühle versuchen sie zu unterdrücken und schauen dabei ernst und regungslos vor sich hin. Wir halten uns immer noch an den Händen und es kommt mir wie eine Ewigkeit vor.

Ich möchte ihr so gerne sagen, wie wichtig mir dieser Besuch ist. Dass ich all die Jahre intensiv gehofft habe, ihr eines Tages noch einmal gegenüberstehen zu dürfen. Dass ich sie immer in meine Gebete mit eingeschlossen habe. Dass sie zu den wichtigsten Menschen in meinem Gefühlsleben gehört und noch vieles mehr. Stattdessen stehe ich stumm da und kann nur mit dem Ausdruck meiner Augen und dem Herzen sprechen.

Plötzlich streckt sie ihre rechte Hand aus, ergreift mein Gesicht, drückt zärtlich mein Kinn und flüstert:

„Corinne, Corinne, Corinne!“ Dabei lächelt sie glücklich. Jetzt ist der Bann gebrochen. Ich umarme sie und kann nicht anders, als ihr einen Kuss auf ihr graues Haupt zu drücken. In diesem Moment bin ich unbeschreiblich glücklich darüber, dass ich den Mut gefunden habe, hierher zurückzukommen. Ich spüre, dass es auch für sie ein sehr bewegender Moment ist.

Für einen kurzen Augenblick schweifen meine Gedanken zu unserer ersten Begegnung zurück. Nachdem ich damals nach langer und abenteuerlicher Suche Lketinga endlich hier in Barsaloi gefunden hatte und wir uns nach einer freudigen Begrüßung in der Manyatta auf dem Kuhfell sitzend aufgeregt und glücklich unterhielten, betrat Mama in gebückter

Haltung ihre Hütte. Sie setzte sich uns gegenüber und schaute mich stumm und, wie mir schien, düster an.

Zwischen uns war nur die rauchende Feuerstelle. Wie heute forschten unsere Blicke im Gegenüber und versuchten minutenlang, im Gesicht der anderen zu lesen. Damals brach sie den Bann, indem sie mir ihre Hand zur Begrüßung entgegenstreckte, heute berührte sie mein Gesicht.

Aufgewühlt und ergriffen von der Begegnung mit Lketinga und mit Mama, rede ich nun einfach drauflos, um gegen die aufsteigenden Tränen anzukämpfen. Ich mache ihr Komplimente über ihr gutes Aussehen. Sie hat immer noch ein volles und fast faltenfreies Gesicht. Lediglich etwas kleiner und schmaler ist sie geworden. Ihr Haupthaar ist kurz geschoren und grau, was ihre Augen noch trüber erscheinen lässt. Aufgrund der offenen Feuerstelle in der Manyatta und dem damit verbundenen Rauch hat sie wie viele Samburu Augenprobleme.

Neben einigen Schichten farbiger Perlenschnüre am Hals trägt sie als Schmuck Ohrringe aus Glasperlen und Messing. An ihren Armen und Fußgelenken erkenne ich die schmalen Silberreifen von früher, die sich mittlerweile tief ins Fleisch gegraben haben. Zur Hochzeit bekam ich von Lketinga einen ähnlichen Schmuck geschenkt. Ich trug ihn so lange, bis ich schmerzhafte Wunden an den Knöcheln bekam, die monatelang nicht heilen wollten. Noch heute sieht man die Narben.

Mamas Kleidung besteht aus einem alten blauen Kanga, den sie um die Schultern gelegt hat, und einem braunen, an vielen Stellen geflickten Rock. Ich bin froh, dass ich für sie drei neue Röcke in meinem Gepäck habe. James hätte ihr von dem Geld, das wir zur Unterstützung geschickt haben, auch mal einen Rock kaufen können, geht es mir durch den Kopf. Doch solange ein Kleidungsstück noch irgendwie zusammenhält, wird es getragen, und mehr als eines kann man sowieso nicht anziehen, ist die Ansicht zumindest der Alten.