»Baum und Borke, Nikabrik!« rief Trumpkin. »Warum mußt du denn so unfreundlich daherreden. Es ist doch nicht die Schuld dieses Wesens, daß es gerade vor unserer Höhle mit seinem Kopf gegen einen Baum rannte. Ich finde, es sieht nicht wie ein Verräter aus.«
»Mit Verlaub«, bemerkte Kaspian, »bis jetzt habt ihr noch nicht herausgefunden, ob ich überhaupt zurückkehren will. Das will ich nämlich gar nicht. Ich möchte bei euch bleiben, wenn ihr es erlaubt. Nach Leuten wie euch suche ich schon mein ganzes Leben lang.« »Das kann man nun nicht ohne weiteres glauben!« knurrte Nikabrik. »Bist du etwa kein Telmarer und kein menschliches Wesen? Natürlich möchtest du zu deinesgleichen zurückkehren.« »Selbst wenn ich es wollte, so könnte ich es nicht«, antwortete Kaspian. »Ich floh um mein Leben, ehe ich den Unfall hatte. Der König will mich töten. Hättest du mich umgebracht, so hättest du gerade das getan, was ihm angenehm wäre.« »Na, so etwas«, meinte Trüffeljäger, »was du nicht sagst!« »He?« sagte Trumpkin. »Was bedeutet das? Wie kommt es, Menschlein, daß du schon in deinem Alter Miraz’ Unwillen erregt hast?«
»Er ist mein Onkel«, begann Kaspian, und sofort sprang Nikabrik mit der Hand am Dolch auf.
»Da habt ihr es!« schrie er. »Nicht nur ein Telmarer, sondern auch ein naher Verwandter und Erbe unseres ärgsten Feindes. Seid ihr immer noch so verrückt, dieses Geschöpf am Leben lassen zu wollen?« Er hätte kurzerhand Kaspian erstochen, wenn der Dachs und Trumpkin ihm nicht den Weg versperrt, ihn auf seinen Platz zurückgedrängt und ihn festgehalten hätten. »Ein für allemal, Nikabrik«, sagte Trumpkin, »willst du dich nun mäßigen, oder müssen Trüffeljäger und ich uns auf deinen Kopf setzen?«
Nikabrik versprach mürrisch, sich besser benehmen zu wollen, und die beiden anderen baten Kaspian, seine Geschichte zu erzählen. Nachdem er das getan hatte, herrschte eine Weile Schweigen.
»Noch nie habe ich so etwas Seltsames gehört«, meinte Trumpkin. »Mir ist das gar nicht lieb«, bemerkte Nikabrik. »Ich ahnte nicht, daß die menschlichen Wesen immer noch von uns reden. Je weniger sie von uns wissen, um so besser. Denkt an die alte Kinderfrau! Die hätte auch lieber ihre Zunge im Zaum halten sollen. Und das alles hängt mit diesem Hauslehrer zusammen – mit einem abtrünnigen Zwerg. Die hasse ich! Die hasse ich mehr als die Menschen. Denkt an meine Worte – aus dieser Sache kann nichts Gutes braten.« »Rede nicht dauernd von Dingen, von denen du nichts verstehst, Nikabrik«, verwies ihn Trüffeljäger. »Ihr Zwerge seid vergeßlich und ändert eure Meinung so wie die Menschen. Ich aber bin ein Tier, und was mehr ist, ein Dachs! Wir ändern uns nicht; wir sind beständig, und ich sage: viel Gutes ist davon zu erwarten. Hier haben wir den wahren König von Narnia, der in das wahre Narnia zurückgekehrt ist. Wir Tiere erinnern uns – selbst wenn die Zwerge es vergessen haben sollten –, daß Narnia immer nur dann gute Zeiten erlebte, wenn ein Adamssohn König war.« »Stock und Stein, Trüffeljäger!« rief Trumpkin aus, »du willst doch das Land nicht den menschlichen Wesen geben?« »Davon habe ich nichts gesagt«, antwortete der Dachs. »Dies ist kein Menschenland – wer wüßte das besser als ich? Aber es ist ein Land, das von einem Menschen regiert sein sollte. Wir Dachse haben eine weit zurückgehende Erinnerung und wissen es. Wie, war denn König Peter etwa kein Mensch?« »Glaubst du an all die alten Geschichten?« fragte Trumpkin. »Ich sagte schon, wir Tiere wandeln uns nicht«, entgegnete Trüffeljäger. »Wir vergessen nicht. Ich glaube so fest an Peter den Prächtigen und die übrigen, die in Feeneden herrschten, wie ich an Aslan glaube.«
»Das verblüfft mich«, meinte Trumpkin. »Wer glaubt denn sonst heutzutage an Aslan?«
»Ich tue es«, erklärte Kaspian. »Und wenn ich bis jetzt nicht an ihn geglaubt hätte, so täte ich es jetzt. Im Menschenreich wird nicht nur über Aslan, sondern auch über die Geschichten von Sprechenden Tieren und Zwergen gespottet. Manchmal habe auch ich gezweifelt, ob es ein Wesen wie Aslan gibt. Manchmal habe auch ich mich gefragt, ob es wirklich Geschöpfe wie euch geben könnte. Nun sehe ich es mit eigenen Augen – ihr seid wahrhaftig vorhanden!«
»Das ist wahr«, bestätigte Trüffeljäger. »Ihr habt recht. Solange Ihr unserem Alt-Narnia treu seid, sollt Ihr mein König sein, was auch die anderen sagen. Lange lebe Eure Majestät!« »Du elendest mich an, Dachs«, grunzte Nikabrik. »König Peter und die anderen mögen Menschen gewesen sein, aber sie waren von anderer Menschenart. Dieser ist einer von den verfluchten Telmarern. Aus Sport hat er Tiere gejagt. – Na, hast du das etwa nicht getan?« wandte er sich plötzlich fragend an Kaspian. »Ja, wenn ich ehrlich sein soll, das habe ich getan«, entgegnete Kaspian. »Aber es waren keine Sprechenden Tiere.« »Das ist einerlei«, sagte Nikabrik.
»Nein, nein, nein«, rief Trüffeljäger, »du weißt selbst, es ist nicht dasselbe, wie du auch sehr gut weißt, daß die Tiere in Narnia heutzutage anders und nicht besser sind als die armen, dumpfen, gedankenlosen Geschöpfe, wie man sie in Kalormen und Telmar findet. Sie sind kleiner und unterscheiden sich mehr von uns, als die Mischzwerge sich von euch unterscheiden.« Es wurde noch viel hin und her geredet. Endlich einigte man sich dahin, daß Kaspian bleiben solle. Man versprach ihm sogar, ihm das zeigen zu wollen, was Trumpkin »die anderen« nannte, sobald er imstande sein werde auszugehen. In diesen wilden Gegenden lebten nämlich augenscheinlich im verborgenen noch viele verschiedene Geschöpfe aus den vergangenen Tagen Narnias.
6. Die Geschöpfe, die im verborgenen lebten
Für Kaspian begann nun die glücklichste Zeit seines Lebens. An einem schönen Sommermorgen, als der Tau noch auf dem Gras lag, machte er sich mit dem Dachs und den beiden Zwergen auf den Weg. Sie wanderten zunächst durch den Wald hinauf auf einen hohen Paß in den Bergen und dann hinab über die sonnigen, südlichen Hänge, von wo man über die grünen Ebenen von Archenland blickt. »Zuerst wollen wir zu den drei Wohlbeleibten Bären gehen«, empfahl Trumpkin.
Sie kamen zu einem alten, hohlen, moosbedeckten Eichbaum auf einer Lichtung, und Trüffeljäger pochte dreimal mit seiner Pfote gegen den Stamm, ohne eine Antwort zu erhalten. Als er erneut klopfte, sagte eine verschlafene Stimme von innen: »Geht fort. Es ist noch nicht an der Zeit aufzustehen.« Da pochte er zum drittenmal, worauf sich innen ein Lärm wie von einem kleinen Erdbeben erhob. Ein türähnliches Gebilde öffnete sich, und heraus kamen drei braune Bären, die wirklich sehr rundlich waren und mit kleinen Augen umherblinzelten. Nachdem ihnen alles erklärt worden war – was übrigens ziemlich lange dauerte, weil sie so verschlafen waren –, sagten sie genau, wie es Trüffeljäger vorher schon getan hatte, daß ein Adamssohn König von Narnia sein solle. Sie alle küßten Kaspian auf ziemlich feuchte, schnüffelige Weise und boten ihm Honig an. Kaspian hatte in dieser frühen Morgenstunde eigentlich auf Honig ohne Brot keinen Appetit, aber er hielt es für unhöflich, ihn nicht anzunehmen. Dafür dauerte es nachher ziemlich lange, bis er alle klebrigen Spuren losgeworden war. Danach wanderten sie weiter, bis sie zu einer Gruppe hoher Buchen kamen, wo Trüffeljäger ausrief: »Flitzeflink, Flitzeflink! Flitzeflink!« Fast augenblicklich kam ein so prächtiges Eichhörnchen, wie Kaspian noch keines gesehen hatte, von Ast zu Ast hüpfend, herbei, bis es genau über ihren Köpfen saß. Es war viel größer als die gewöhnlichen, stummen Eichhörnchen, die er manchmal in den Schloßgärten beobachtet hatte, fast so groß wie ein kleiner Hund. Schaute man ihm ins Gesicht, so sah man sogleich, daß es sprechen konnte. Es war viel schwieriger, es zum Schweigen zu bringen, denn es war – wie alle Eichhörnchen – eine Plappertasche. Es begrüßte Kaspian sofort und fragte, ob er eine Nuß haben wolle. Kaspian sagte dankend ja. Als dann Flitzeflink forthüpfte, um die Nuß zu holen, flüsterte Trüffeljäger in Kaspians Ohr: »Sieh nicht hin. Blick nach der anderen Seite. Bei den Eichhörnchen gilt es als sehr unerzogen, wenn man sie auf dem Weg nach ihrer Vorratskammer beobachtet oder sich merken läßt, wie gern man wissen möchte, wo sie ist.« Inzwischen kam Flitzeflink mit der Nuß zurück, die Kaspian gleich verspeiste. Dann fragte das Eichhörnchen ihn, ob es noch Botschaften an andere Freunde befördern solle. »Denn ich kann fast überallhin gelangen, ohne den Fuß auf den Boden zu setzen«, meinte es. Trüffeljäger und die Zwerge waren sehr erfreut über dieses Angebot und gaben Flitzeflink Nachrichten mit für alle möglichen Geschöpfe mit merkwürdigen Namen. Ihnen allen sollte das Eichhörnchen mitteilen, sie möchten sich um Mitternacht in drei Tagen auf der Tanzwiese zu einer großen Versammlung mit Fest einfinden. »Sag es auch den drei Wohlbeleibten Bären«, fügte Trumpkin hinzu. »Wir vergaßen, es bei ihnen zu erwähnen.«