Inzwischen hielt in dem geheimen Zauberzimmer im Herzen des Mals König Kaspian mit Cornelius, dem Dachs, Nikabrik und Trumpkin einen Rat ab. Dicke Säulen von alter Handwerkskunst trugen das Dach dieser Kammer. Genau in ihrer Mitte war der Stein – ein Steintisch, der bis tief zur Mitte gespalten und bedeckt war mit Spuren einer einstigen Inschrift. Aber Wind, Regen und Schnee hatten in vielen Jahren die Schriftzeichen fortgewaschen – damals, in den alten Zeiten, als der Steintisch auf dem Gipfel des Berges stand und der Hügel noch nicht darüber errichtet war. Kaspian und seine Gefährten benutzten diesen Tisch nicht; sie saßen nicht einmal um ihn herum. Es war ein zu verwunschener Gegenstand, als daß man ihn für einen gewöhnlichen Zweck benutzen mochte. Sie hatten sich ein wenig entfernt von ihm auf Klötze gesetzt; zwischen ihnen stand ein ungehobelter Holztisch mit einer einfachen Tonlampe darauf, die ihre bleichen Gesichter erhellte und tiefe Schatten an die Mauern warf.
»Wenn Eure Majestät das Horn jemals benutzen will«, riet Trüffeljäger, »so ist, glaube ich, die Zeit dafür jetzt gekommen.« Kaspian hatte ihnen natürlich schon vor Tagen von diesem Schatz erzählt.
»Wir sind gewißlich in großer Not«, antwortete Kaspian, »aber wer will entscheiden, ob wir in größter Not sind? Was geschieht, wenn eine noch größere Not folgt, und wir haben das Horn dann schon benutzt?«
»Wenn Ihr so denkt, Majestät«, sagte Nikabrik, »werdet Ihr es nie benutzen oder bis es zu spät ist.« »Dem stimme ich zu«, meinte Doktor Cornelius. »Und was meinst du, Trumpkin?« fragte Kaspian. »Oh, was mich betrilfit«, antwortete der Rotzwerg, der vollkommen gleichgültig zugehört hatte, »so weiß Eure Majestät, daß ich das Horn – und das Stück zerbrochenen Steins dort drüben – und Euren König Peter den Prächtigen und Euren Löwen Aslan für Phantasiegebilde halte. Mir ist es gleich, ob Eure Majestät in das Horn bläst oder nicht. Nur bestehe ich darauf, daß das Heer nichts davon erfährt. Es ist nicht gut, Hoffnungen auf Zauberhilfe zu erwecken, die sicherlich enttäuscht werden, wie ich annehme.« »Dann wollen wir im Namen Aslans in das Horn der Königin Suse blasen«, erklärte Kaspian.
»Ich gebe zu bedenken, Sire«, sagte Doktor Cornelius, »daß zuvor vielleicht noch etwas anderes getan werden müßte. Wir wissen nicht, in welcher Weise die Hilfe erscheint. Vielleicht wird Aslan von jenseits des Meeres herbeigerufen. Eher glaube ich aber, daß das Horn König Peter und seine mächtigen Gefährten aus der Vergangenheit herbeiholt. Was auch geschieht, ich frage mich, ob wir die Hilfe unbedingt an dieser Stelle hier erwarten können.«
»Das ist ein wahres Wort«, warf Trumpkin dazwischen. »Ich denke mir«, fuhr der gelehrte Mann fort, »daß sie – oder er – an den einen oder anderen der alten Plätze von Narnia kommen wird. Diese Stelle, wo wir jetzt sitzen, ist der älteste und zauberkräftigste Platz von allen, und hier erscheint vielleicht die Antwort am ehesten. Aber es gibt noch zwei andere Plätze. Der eine ist das Laternendickicht, flußaufwärts, westlich vom Biberdamm, wo, wie die Überlieferung berichtet, die königlichen Kinder zuerst in Narnia erschienen sind. Der andere ist unten an der Flußmündung, wo einmal ihr Schloß Feeneden stand. Und sollte Aslan selbst kommen, so wäre der beste Platz, ihn zu treffen ebenfalls dort, denn alle Geschichten berichten, er ist der Sohn des großen Kaisers jenseits des Meeres, der über das Wasser kommen wird. Ich halte es für richtig, an beide Stellen Boten zu entsenden – nach dem Laternendickicht und an die Flußmündung –, um sie oder ihn oder es zu empfangen.« »Genau wie ich dachte«, murmelte Trumpkin. »Als erstes kommt aus all diesen Narrheiten heraus, daß wir – statt Hilfe zu erhalten – zwei Kämpfer einbüßen.« »Wen möchten Sie entsenden, Herr Doktor«, fragte Kaspian. »Die Eichhörnchen eignen sich am besten dazu, durch Feindesland zu schlüpfen, ohne gefangen zu werden«, meinte Trüffeljäger. »Alle unsere Eichhörnchen, von denen wir übrigens nicht sehr viele haben«, meinte Nikabrik, »sind ziemlich leichtfertig. Das einzige, das man mit einem solchen Auftrag betrauen könnte, ist Flitzeflink.«
»Dann laßt uns Flitzeflink nehmen«, entschied König Kaspian. »Und wer sonst soll Bote werden? Ich weiß, du würdest gehen, Trüffeljäger, aber du bist nicht schnell genug. Und Sie sind es auch nicht, Herr Doktor.«
»Ich gehe bestimmt nicht«, erklärte Nikabrik. »Hier laufen jetzt so viele Menschen und Tiere herum, daß ein leitender Zwerg zurückbleiben muß, um darauf zu achten, daß die Zwerge anständig behandelt werden.«
»Donner und Doria!« rief Trumpkin voller Zorn. »Wie sprichst du denn mit dem König! Sendet mich, Sire, ich werde gehen.« »Ich denke, du hast kein Vertrauen zu dem Horn, Trumpkin?« fragte Kaspian.
»Das habe ich auch nicht, Majestät. Aber was hat das damit zu tun? Ich kann geradesogut auf der Jagd nach Luftschlössern untergehen wie hier sterben. Ihr seid mein König, und ich weiß wann ein Rat gegeben und wann ein Befehl befolgt werden muß. Meinen Rat habt Ihr gehabt, und jetzt ist die Zeit für Befehle gekommen.«