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Obwohl nicht ein Lüftchen sich rührte, regten sich alle Bäume um sie her. Die Blätter raschelten, als wenn sie sprächen. Die Nachtigall unterbrach ihren Gesang, als wolle sie lauschen. In wenigen Augenblicken, so fühlte Lucy, würde sie verstehen, was die Bäume sagen wollten. Aber dieser Augenblick kam nicht. Das Rascheln verstummte. Die Nachtigall setzte ihren Gesang fort. Selbst im Mondlicht sah der Wald wieder ganz gewöhnlich aus. Aber Lucy hatte das Gefühl – wie man es manchmal hat, wenn man versucht, sich auf einen Namen oder eine Zahl zu besinnen, und sie liegen einem auf der Zunge, entgleiten aber, ehe man sich richtig erinnert –, daß sie um Haaresbreite etwas versäumt hatte. Es war ihr, als habe sie den Bruchteil einer Sekunde zu früh oder den Bruchteil einer Sekunde zu spät zu den Bäumen gesprochen oder als habe sie alle richtigen Worte bis auf eines gebraucht oder aber ein verkehrtes Wort hinzugefügt. Ganz plötzlich wurde sie müde. Sie ging zurück ins Lager, kuschelte sich zwischen Suse und Peter und schlief ein. Kalt und unfroh erwachten alle am nächsten Morgen im grauen Dämmerlicht des Waldes. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, und alles war feucht und schmutzig. »Äpfel! Heißajuchhei!« sagte Trumpkin mit betrübtem Grinsen, »ich muß schon sagen: die einstigen Könige und Königinnen überfüttern ihre Höflinge nicht gerade.« Sie erhoben sich, schüttelten sich und blickten um sich. Die Bäume waren dick, und sie konnten nach jeder Richtung nur einige Meter weit sehen.

»Eure Majestäten wissen vermutlich den Weg genau?« fragte der Zwerg.

»Ich nicht«, antwortete Suse. »Diese Wälder habe ich noch nie in meinem Leben gesehen. Eigentlich hatte ich angenommen, wir müßten am Fluß entlanggehen.« »Dann hättest du das, finde ich, rechtzeitig sagen sollen«, bemerkte Peter mit verständlicher Schärfe. »Oh, kümmere dich doch nicht um sie«, sagte Edmund. »Sie war schon immer ein Waschlappen. Du hast doch einen Taschen-kompaß, Peter, nicht wahr? Gut, dann ist die Sache klar wie dicke Tinte. Wir müssen uns beim Marschieren nach Nordwesten halten – den kleinen Fluß dort überqueren, den – wie heißt er doch gleich? – Sturzbach.«

»Ich weiß«, fiel Peter ein, »den, der bei der Festung Beruna oder bei der Berunabrücke, wie der LKF sie nennt, auf den großen Fluß trifft.«

»Richtig! Wir überqueren ihn und steigen bergan: dann sind wir um acht oder neun Uhr herum am Steintisch – ich meine bei Aslans Mal. Hoffentlich hält König Kaspian ein gutes Frühstück für uns bereit.«

»Und hoffentlich hast du recht«, meinte Suse. »Auf all das kann ich mich nicht mehr besinnen.« »Das ist bei den Mädchen leider immer so«, bemerkte Edmund zu Peter und dem Zwerg. »Sie können niemals eine Landkarte im Kopf behalten.«

»Weil in unseren Köpfen nämlich schon etwas anderes drin ist«, erwiderte Lucy.

Anfangs schien alles gutzugehen. Sie glaubten sogar, auf einen alten Pfad geraten zu sein. Aber wenn ihr etwas von Wäldern versteht, wißt ihr, wie oft man auf solche vermeintlichen Pfade stößt. Nach einigen Minuten sind sie dann plötzlich zu Ende, und man stößt auf den nächsten, wobei man hofft, es möge kein anderer Pfad, sondern ein Stück des ersten sein, und der verschwindet auch, und wenn man dann völlig aus der Richtung geraten ist, erkennt man, daß keiner von allen ein richtiger Weg war. Die Jungen und der Zwerg allerdings waren mit Wäldern vertraut und ließen sich nur ganz kurze Zeit täuschen. Etwa eine halbe Stunde lang waren sie dahingetrottet – drei von ihnen waren nach dem gestrigen Rudern noch recht steif –, als Trumpkin plötzlich wisperte: »Halt!« Sie blieben stehen. »Irgend etwas folgt uns«, sagte er leise, »oder vielmehr, irgend etwas versucht, mit uns Schritt zu halten – drüben an der linken Seite.« Sie standen, lauschten und starrten hinüber, bis ihnen Ohren und Augen schmerzten. »Wir beiden sollten Pfeile in unsere Bogen stecken«, sagte Suse zu Trumpkin. Der Zwerg nickte, und als beide Bogen schußbereit waren, ging die Gruppe weiter. Sie wanderten einige Dutzend Meter durch ziemlich freies Waldgelände und waren sehr auf der Hut. Dann wurde das Unterholz dichter, und sie mußten sich dem verdächtigen Ding nähern. Als sie dicht daran waren, brach plötzlich aus krachenden Zweigen mit heißem Atem wie ein Blitz etwas Knurrendes. Lucy wurde umgestoßen und hörte, während sie hinfiel, den Ton der Bogensehne. Als sie wieder etwas wahrnehmen konnte, sah sie einen großen, grauen, grimmig aussehenden Bären mit Trumpkins Pfeil in der Seite tot daliegen.

»Bei diesem Schießen um die Wette hat dich der LKF ausgestochen, Suse«, sagte Peter und lächelte etwas gezwungen. Selbst ihn hatte dieses Abenteuer mitgenommen. »Ich – ich war zu langsam«, meinte Suse mit verlegener Stimme. »Ich fürchtete, es könne einer von unseren Bären, ein Sprechender Bär sein.« Sie haßte das Töten.

»Das macht es eben so schwierig«, entgegnete Trumpkin, »wenn die meisten Tiere feindselig und stumm geworden sind, aber noch einige von der anderen Art leben. Man weiß niemals, was man vor sich hat, wagt aber nicht, abzuwarten.« »Guter alter Bruin«, sagte Suse. »Der kann es doch nicht etwa gewesen sein?«

»Nein, der nicht«, erwiderte der Zwerg. »Von diesem da sah ich das Gesicht und hörte das Knurren. Er wollte nur das kleine Mädchen zum Frühstück verspeisen. Da wir gerade von Frühstück sprechen – ich wollte Eure Majestät nicht enttäuschen, als Ihr hofftet, König Kaspian werde Euch ein gutes Frühstück auftischen, aber Fleisch ist im Heerlager sehr knapp. Und Bärenfleisch schmeckt sehr gut. Es wäre eine Schande, den Kadaver liegenzulassen, ohne etwas davon zu nehmen. Es würde uns nicht länger als eine halbe Stunde aufhalten, etwas abzuschneiden. Ich nehme an, ihr beiden jungen Burschen – Könige wollte ich sagen – wißt, wie man einen Bären häutet?« »Laßt uns ein Stück weitergehen und uns niedersetzen«, schlug Suse Lucy vor. »Ich weiß, was das für eine greuliche Sache ist.« Lucy schüttelte sich und nickte. Als sie sich niedergelassen hatten, sagte sie: »Mir ist ein schrecklicher Gedanke gekommen, Suse.«

»Was für einer?«

»Wie entsetzlich wäre es, wenn eines Tages in unserer Welt Menschen, die unter uns leben, wild würden wie die Tiere hier und dabei noch weiter wie Menschen aussähen. Man wüßte dann niemals, welches die einen und welches die anderen sind!« »Wir haben genug Plage hier und später in Narnia«, meinte die praktische Suse, »und sollten uns nicht nur solche Dinge ausmalen.«

Als sie wieder mit den Jungen und dem Zwerg zusammentrafen, war inzwischen von dem besten Fleisch soviel abgeschnitten, wie sie glaubten tragen zu können. Es ist keine angenehme Sache, sich die Taschen mit rohem Fleisch zu füllen, aber sie schlugen es in frische Blätter ein und fanden sich damit ab, so gut es ging. Alle waren sie erfahren genug, um zu wissen, daß sie über diese wabbeligen und unappetitlichen Packen später ganz anders denken würden. Sie mußten nur erst lange genug marschiert und wirklich hungrig geworden sein. Sie schleppten sich weiter und machten nur Pause, um drei Paar Hände im ersten Bach zu waschen, den sie trafen, bis die Sonne aufging, die Vögel zu singen begannen und mehr Fliegen in den Farnen summten, als ihnen angenehm war. Sie waren nun nicht mehr ganz so steif von den gestrigem Rudern wie anfangs. Ihre Laune hob sich. Die Sonne wurde wärmer, und so nahmen sie ihre Helme ab und trugen sie in der Hand.