»Das bin ich nicht. Aber du wirst mich mit jedem Jahr, das du älter wirst, größer finden.«
Eine Zeitlang war sie so glücklich, daß sie gar nicht sprechen mochte. Aber Aslan redete.
»Lucy«, sprach er, »wir dürfen hier nicht lange liegenbleiben. Du hast noch viel zu tun, und heute ist viel Zeit verloren worden.«
»Ja, war es nicht schändlich?« fragte Lucy. »Ich sah dich doch. Sie glaubten mir nicht. Sie sind alle so...« Tief aus Aslans Körper kam die leise Andeutung eines Knurrens. »Verzeih, bitte«, sagte Lucy, die etwas von seiner Stimmung verstand. »Ich wollte die anderen nicht schlechtmachen. Aber es war doch nicht meine Schuld, nicht wahr?« Der Löwe blickte ihr gerade in die Augen.
»Oh, Aslan«, beschwor ihn Lucy, »du denkst doch nicht etwa, es war mein Fehler? Wie konnte ich – ich konnte doch nicht die anderen verlassen und allein zu dir heraufkommen, nicht wahr? Schau mich nicht so an – na ja, vielleicht hätte ich es doch gekonnt. Ja, und ich wäre auch nicht allein gewesen, das weiß ich – nicht, solange ich bei dir gewesen wäre. Aber was hätte es genützt?« Aslan antwortete nichts.
»Du meinst«, fuhr Lucy kläglich fort, »alles wäre gut ausgegangen – irgendwie? Aber wie? Bitte, Aslan, soll ich es nicht erfahren?« »Etwas erfahren, was sich ereignet hätte, Kind?« sagte Aslan. »Nein, das erfährt niemals jemand.« »O weh«, stieß Lucy aus. »Aber jeder kann erkennen, was sich ereignen wird«, sagte Aslan. »Wenn du zu den anderen zurückgehst, sie aufweckst, ihnen berichtest, daß du mich wiedergesehen hast, und ihnen sagst, sie alle müßten sich sofort erheben und mir folgen – was wird dann geschehen? Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden.« »Ist es das etwa, was ich jetzt tun soll?« »Ja, mein Kleines«, erwiderte Aslan. »Werden die anderen dich auch sehen?« fragte Lucy. »Keinesfalls sofort«, antwortete Aslan. »Vielleicht später, das mag sein.« »Aber sie werden mir nicht glauben«, meinte Lucy. »Das ist einerlei«, entgegnete Aslan. »Oje, oje«, klagte Lucy. »Und ich war so froh, dich wiederzusehen. Und ich glaubte, ich dürfte bei dir bleiben. Und ich dachte, du kommst brüllend an und schlägst alle Feinde in die Flucht – wie damals. Und jetzt wird alles so schrecklich.« »Es ist schwer für dich, Kleines«, sagte Aslan. »Aber nichts wiederholt sich. Es war für uns alle in Narnia bis jetzt schwer.« Lucy verbarg ihren Kopf in seiner Mähne, um sich vor seinem Blick zu verstecken. Aber in seiner Mähne muß Zauber gewesen sein. Sie fühlte, wie Löwenstärke in sie hineinströmte. Ganz plötzlich setzte sie sich auf. »Es tut mir leid, Aslan«, sagte sie. »Jetzt bin ich bereit.« »Jetzt bist du wie eine Löwin«, meinte Aslan. »Nun wird das ganze Narnia neu erstehen. Komm jetzt. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«
Er erhob sich und schritt stattlich und lautlos zurück zu dem Ring der tanzenden Bäume, durch den Lucy gekommen war. Lucy ging neben ihm und legte ihre ziemlich zitternde Hand auf seine Mähne. Die Bäume wichen auseinander, um sie durchzulassen, und nahmen für einen Augenblick ganz und gar ihre menschlichen Formen an. Lucy sah große und schöne Waldgötter und Waldgöttinnen vor sich, die sich alle vor dem Löwen niederbeugten. Gleich danach waren sie wieder Bäume, aber sie verbeugten sich weiter und schwenkten dabei Zweige und Äste so anmutig, daß ihre Verbeugung wie ein Tanz anzuschauen war. »So, Kind«, sagte Aslan, als sie die Bäume hinter sich gelassen hatten. »Hier werde ich warten. Geh, weck die anderen und fordere sie auf, dir zu folgen. Wollen sie es nicht, so mußt wenigstens du allein mir folgen.« Es ist eine heikle Aufgabe, vier Menschen zu wecken, die sehr müde und älter sind als man selbst, nur um ihnen etwas mitzuteilen, was sie voraussichtlich nicht glauben, und sie zu etwas aufzufordern, was sie bestimmt nicht mögen. »Ich darf nicht darüber nachdenken. Ich muß es einfach tun«, sagte sich Lucy. Zuerst ging sie zu Peter und schüttelte ihn. »Peter«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Wach auf. Schnell. Aslan ist da. Er sagt, wir müssen ihm sofort folgen.« »Natürlich, Lu. Was du willst«, sagte Peter unerwartet. Das war sehr ermutigend, da sich Peter aber sofort wieder umdrehte und weiterschlief, hatte es wenig Sinn.
Dann versuchte Lucy es bei Suse. Suse wachte richtig auf, aber nur, um mit ihrer aufreizenden Erwachsenenstimme zu sagen: »Du hast geträumt, Lucy. Leg dich wieder hin.« Dann packte sie Edmund. Ihn zu wecken war schwierig; doch als es endlich erreicht war, setzte er sich ganz wach auf. »Nanu«, sagte er in mürrischem Ton, »wovon redest du?« Sie wiederholte nochmals alles. Dies war der unangenehmste Teil ihres Auftrages, denn jedesmal, wenn sie es hersagte, klang es weniger überzeugend.
»Aslan!« rief Edmund aufspringend. »Hurra! Wo ist er?« Lucy wandte sich dorthin, wo sie den Löwen sehen konnte, der wartend seine geduldigen Augen auf sie richtete. »Dort«, sagte sie und wies hin. »Wo?« fragte Edmund wieder. »Dort! Dort. Siehst du ihn denn nicht? Vor den Bäumen?« Edmund starrte eine Weile scharf dorthin und sagte dann: »Nein, da ist nichts. Ich wurde zuerst vom Mondlicht geblendet und irrte mich. Das kann vorkommen. Zuerst dachte ich einen Augenblick lang auch, ich hätte etwas gesehen. Aber das war nur eine – wie nennt man das doch – optische Täuschung – oder?« »Ich sehe ihn die ganze Zeit«, erklärte Lucy. »Er blickt uns gerade an.«
»Warum kann ich ihn denn nicht sehen?« »Er sagte, du bist vielleicht dazu nicht imstande.« »Warum nicht?« »Das weiß ich nicht. Er sagte so.«
»Ach, wie blöd«, meinte Edmund. »Wenn du bloß nicht dauernd Erscheinungen sehen wolltest! Aber wir werden wohl die anderen wecken müssen.«
11. Der Löwe brüllt
Als die ganze Gesellschaft endlich erwacht war, mußte Lucy ihre Geschichte zum viertenmal erzählen. Das undurchdringliche Schweigen, das darauf folgte, war entmutigend. »Ich kann nichts sehen«, erklärte Peter, nachdem er geradeaus gestarrt hatte, bis seine Augen schmerzten. »Siehst du etwas, Suse?«
»Nein, natürlich nicht«, antwortete Suse schnippisch, »weil nämlich gar nichts da ist. Sie hat geträumt. Leg dich wieder hin und schlafe weiter, Lucy.«
»Und doch hoffe ich so sehr«, sagte Lucy mit zitternder Stimme, »daß ihr alle mitkommt. Weil – weil ich mit ihm gehen muß, einerlei, ob sonst jemand mitkommt oder nicht.« »Red keinen Unsinn, Lucy«, sagte Suse. »Natürlich kannst du nicht allein losgehen. Laß sie nicht fort, Peter. Sie ist ganz ungezogen.« »Ich werde mit ihr gehen, wenn sie gehen muß«, erklärte Edmund. »Sie hat schon einmal recht gehabt.« »Das weiß ich wohl«, stimmte Peter bei. »Und sie mag auch heute morgen recht gehabt haben. Wir hatten kein Glück damit, die Schlucht hinabzusteigen. Aber – zu dieser Nachtzeit! Und warum ist Aslan für uns unsichtbar? Das war er doch sonst nicht. Das sieht ihm nicht ähnlich. Was sagt der LKF dazu?« »Oh, ich sage überhaupt nichts«, antwortete der Zwerg. »Wenn ihr alle geht, werde ich selbstverständlich mit euch gehen. Trennt ihr euch aber, so gehe ich mit König Peter. Das ist meine Pflicht ihm und König Kaspian gegenüber. Wenn ihr aber meine persönliche Meinung hören wollt, so muß ich sagen, ich als einfacher Zwerg verspreche mir nicht viel davon, nachts einen Weg dort zu suchen, wo man ihn am Tage schon nicht finden konnte. Außerdem kann ich mir nichts unter Zauberlöwen vorstellen, die Sprechende Löwen sein sollen und nicht sprechen, und unter freundlichen Löwen, die nichts Freundliches vollbringen, und unter großen, schweifschlagenden Löwen, die niemand sehen kann. Das sind, soweit ich es beurteilen kann, Hirngespinste.« »Er schlägt mit seiner Pranke den Boden, damit wir uns beeilen«, drängte Lucy. »Wir müssen sofort aufbrechen, jedenfalls ich.« »Du hast nicht das Recht, uns andern auf diese Weise zu zwingen. Wir sind vier zu eins, und du bist die Jüngste«, sagte Suse. »Oh, los doch«, brummte Edmund. »Wir müssen uns auf den Weg machen. Vorher haben wir doch keine Ruhe.« Er hatte zwar durchaus die Absicht, Lucy den Rücken zu stärken, aber er war verdrießlich, weil er nicht zu seinem Schlaf kam, und das machte er damit wett, daß er alles möglichst mürrisch tat. »Vorwärts denn«, sprach Peter, steckte müde seinen Arm in den Riemen des Schildes und setzte sich den Helm auf. Zu jeder anderen Zeit hätte er Lucy ein paar freundliche Worte gesagt, weil sie seine Lieblingsschwester war. Zudem ahnte er, wie elend sie sich fühlte, und sie trug, wie er wohl wußte, keine Schuld an dem, was geschehen war. Aber trotz alldem konnte er nicht umhin, sich etwas über sie zu ärgern. Suse war die ärgste. »Stellt euch vor, ich würde mich so benehmen wie Lucy«, sagte sie. »Wenn ich nun drohen würde hierzubleiben, einerlei, ob ihr anderen geht oder nicht? Das sollte ich wirklich tun.«