»Sohn der Erde, wollen wir Freunde werden?« fragte Aslan. »Ja-a-aha«, keuchte der Zwerg, der noch nach Luft rang. »Also«, sprach Aslan, »der Mond geht unter. Schaut hinter euch; die Morgendämmerung beginnt. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Ihr drei, die beiden Adamssöhne und der Sohn der Erde, eilt in den Berg und tut, was dort für euch zu tun ist.« Der Zwerg, noch nicht wieder zu Atem gekommen, konnte nichts sagen, und keiner der Jungen wagte zu fragen, ob Aslan ihnen folgen werde. Alle drei zogen ihre Schwerter und grüßten, wandten sich dann um und verschwanden klirrend in der Dunkelheit. Ihre Gesichter zeigten, wie Lucy bemerkte, keine Erschöpfung mehr. Die beiden Könige, Peter der Prächtige wie auch Edmund, sahen jetzt fast wie Männer, kaum noch wie Knaben aus. Die Mädchen standen neben Aslan und blickten den Jungen nach, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Das Licht veränderte sich. Weit unten im Osten schimmerte wie ein kleiner Mond Aravir, der Morgenstern von Narnia. Aslan, der größer zu werden schien, hob das Haupt, schüttelte seine Mähne und stieß ein Brüllen aus. Der Ton begann zuerst wie ein tiefer Orgellaut, dunkel und vibrierend, schwoll an, wurde lauter und immer lauter, bis Erde und Himmel davon erfüllt waren. Er schwang sich von dem Hügel auf und flutete über ganz Narnia. Drunten in Miraz’ Lager erwachten die Männer, blickten einander blaß werdend an und griffen zu den Waffen. Weiter unten im Großen Fluß – der jetzt seine kälteste Stunde hatte – hoben sich die Köpfe und Schultern der Nymphen und das große, schilfbärtige Haupt des Flußgottes aus dem Wasser. Jenseits schossen auf allen Feldern und in allen Wäldern die beweglichen Ohren der Kaninchen aus den Höhlen; die schläfrigen Köpfe der Vögel krochen unter den Flügeln hervor, Eulen schrien, Füchse bellten, Igel grunzten, Bäume bewegten sich. In den Städten und Dörfern drückten mit schreckerfüllten Augen die Mütter ihre Kinder eng an die Brust, Hunde winselten, und Männer sprangen auf und suchten nach Licht. Fern an der Nördlichen Grenze schauten die Bergriesen suchend aus den dunklen Toren ihrer Schlösser. Lucy und Suse sahen indessen ein finsteres Etwas von fast allen Seiten über die Hügel auf sie zukommen. Es sah zuerst wie ein dunkler, am Boden kriechender Nebel aus, dann aber wie sturmbewegte Wellen eines schwarzen Meeres. Höher und höher wuchs es, während es näher kam, und endlich erkannten sie es als das, was es war – Bäume in Bewegung. Alle Bäume der Welt schienen auf Aslan zuzueilen. Aber je näher sie kamen, um so weniger sahen sie wie Bäume aus. Als die ganze Menge Lucy umgab, sich verbeugte, knickste und mit langen, dünnen Armen Aslan zuwinkte, erkannte sie es als eine Masse menschlicher Formen. Bleiche Birkenmädchen schwenkten ihre Köpfe, Weidenfrauen schüttelten sich das Haar aus den sinnenden Gesichtern und blickten auf Aslan. Die königlichen Buchen standen gemessen da und bewunderten ihn; haarige Eichenmänner, hagere und trübsinnige Ulmen, Stechpalmen mit Zottelköpfen – sie selbst waren dunkel, aber ihre Frauen wirkten durch die Früchte hell – und fröhliche Ebereschen, sie alle verneigten sich, erhoben sich wieder und riefen »Aslan, Aslan!« mit ihren verschiedenen, teils knarrenden oder säuselnden Stimmen.
Die Menge um Aslan wurde erdrückend und der Tanz – denn es hatte sich wieder ein Tanz entwickelt – gewaltig und schnell; fast benahm er Lucy den Atem. Sie bemerkte nicht, daß und woher gewisse andere Geschöpfe auftauchten, die sich mit Luftsprüngen unter die Bäume mischten. Eines war ein nur mit einem Rehfell bekleideter Jüngling, der einen Kranz von Weinblättern in den Locken trug. Sein Antlitz wäre für einen Knaben fast zu hübsch gewesen, hätte es nicht so sehr wild ausgesehen. Man empfand bei seinem Anblick das, was Edmund aussprach, als er ihn einige Tage später sah: »Das ist ein Bursche, der zu allem fähig ist – durchaus zu allem.« Umgeben war dieser Jüngling von einer Gruppe genauso wilder Mädchen.
Eben jetzt ging die Sonne auf, Lucy besann sich auf etwas und flüsterte es Suse zu: »Du, Suse, ich weiß, wer das ist.« »Wer denn?«
»Der Knabe mit dem wilden Antlitz ist Bacchus. Weißt du nicht mehr, wie uns Meister Tumnus vor langer Zeit davon erzählte?«
»Ja, natürlich. Aber weißt du, Lu...« »Was denn?«
»Ohne Aslan würde ich mich bei Bacchus und seinen wilden Mädchen nicht wohl fühlen.«
»Das geht mir ebenso«, antwortete Lucy.
12. Hexerei und schnelle Vergeltung
Inzwischen waren Tumpkin und die beiden Jungen bei dem dunklen kleinen Torbogen angekommen, der in das Innere des Hügels führte. Zwei Dachsposten – die weißen Flecken auf ihren Backen waren alles, was Edmund von ihnen erkennen konnte – sprangen zähnefletschend hoch und fragten mit knurrender Stimme: »Wer da?«
»Trumpkin«, erwiderte der Zwerg, »der König Peter den Prächtigen von Narnia aus der fernen Vergangenheit bringt.« Die Dachse beschnüffelten die Knabenhände. »Endlich«, sagten sie, »endlich!«
»Gebt uns ein Licht, Freunde«, forderte Trumpkin. Die Dachse suchten im Torbogen eine Fackel, die Peter anzündete und Trumpkin übergab. »Der LKF soll führen«, sagte er. »Wir kennen uns hier nicht aus.«
Trumpkin nahm die Fackel und ging voran in den dunklen Gang. Es war hier kalt, finster, muffig und voller Spinnweben. Gelegentlich flatterte eine Fledermaus in das Fackellicht. Die Jungen, die seit drei Tagen fast immer im Freien gewesen waren, fühlten sich, als seien sie in eine Falle oder ein Gefängnis geraten. »Sieh mal, Peter«, flüsterte Edmund. »Schau dir die Schnitzereien an den Wänden an. Sehen sie nicht sehr alt aus? Und doch sind wir noch älter als sie. Als wir zuletzt hier waren, gab es sie noch nicht.« »Ja«, meinte Peter, »das gibt zu denken.« Der Zwerg ging geradeaus, wandte sich dann nach rechts und dann nach links, stieg einige Stufen hinunter und ging wieder nach links. Endlich sahen sie vor sich ein Licht, ein Licht, das unter einer Tür hervorschien. Jetzt hörten sie auch zum erstenmal Stimmen. Sie hatten den Eingang zum Innenraum erreicht. Die Stimmen darin klangen ärgerlich. Einer sprach so laut, daß das Kommen der Jungen und des Zwerges übertönt wurde. »Der Ton gefällt mir nicht«, flüsterte Trumpkin Peter zu. »Laßt uns einen Augenblick lauschen.« Alle drei blieben ganz still draußen vor der Tür stehen. »Du weißt ganz gut«, sagte eine Stimme (»Das ist der König«, flüsterte Trumpkin), »warum das Horn an jenem Morgen nicht bei Sonnenaufgang geblasen wurde. Hast du vergessen, daß Miraz uns überfiel, gleich nachdem Trumpkin sich entfernt hatte? Wir mußten mehr als drei Stunden um unser Leben kämpfen, wie du weißt. Ich habe geblasen, als ich zum erstenmal wieder zu Atem gekommen war.«
»Das kann ich gar nicht vergessen«, antwortete die ärgerliche Stimme, »weil meine Zwerge den Anprall des Angriffs aushalten mußten, wobei jeder fünfte fiel.« (»Das ist Nikabrik«, flüsterte Trumpkin.)
»Schäm dich, Zwerg«, war eine kehlige Stimme zu hören. (»Trüffeljäger«, erklärte Trumpkin.) »Wir alle taten ebensoviel wie die Zwerge, und am meisten tat der König.« »Meinethalben erzähle die Geschichte, wie du willst«, entgegnete Nikabrik. »Aber, ob nun das Horn zu spät geblasen wurde oder ob es keinen Zauber in sich trug, Tatsache ist: wir haben keine Hilfe erhalten. Du, der große Lehrer, du Meisterzauberer, du Alleswisser, verlangst du immer noch, daß wir unsere Hoffnungen an Aslan und König Peter und die übrigen knüpfen?« »Ich muß gestehen – ich kann nicht leugnen, daß – daß ich äußerst enttäuscht von dem Ergebnis des Unternehmens bin«, kam die Antwort. (»Doktor Cornelius«, meinte Trumpkin.) »Klar heraus«, sagte Nikabrik, »deine Taschen sind leer, deine Eier faul, dein Fisch schwimmt noch herum, und deine Versprechen sind gebrochen. Bleib also beiseite und laß andere die Arbeit tun. Und darum...«