»Die Hilfe wird kommen«, meinte Trüffeljäger. »Ich stehe zu Aslan. Hab Geduld wie wir Tiere. Die Hilfe wird kommen, sie kann schon an der Tür sein.«
»Pah!« knurrte Nikabrik. »Ihr Dachse würdet uns warten lassen, bis der Himmel einstürzt und wir die Lerchen fangen können. Ich sage dir, wir können nicht mehr warten. Die Lebensmittel gehen zu Ende; bei jedem Zusammenstoß verlieren wir mehr, als wir uns leisten können; unsere Anhänger zerstreuen sich.« »Und warum?« fragte Trüffeljäger. »Ich werde dir sagen, warum. Weil es sich herumgesprochen hat, daß wir die Könige der vergangenen Zeit anriefen und daß die Könige der alten Zeit nicht geantwortet haben. Die letzten Worte, die Trumpkin sprach, bevor er sich entfernte und sehr wahrscheinlich in den Tod ging, waren: ›Wenn du glaubst, das Horn blasen zu müssen, so laß das Heer nicht wissen, warum du es bläst und was du dir davon versprichst.‹ Aber noch am gleichen Abend hatte es sich offenbar schon herumgesprochen.« »Du solltest deine graue Schnauze lieber in ein Wespennest stecken als andeuten, daß ich ein Schwätzer bin«, erboste sich Nikabrik. »Nimm das zurück oder... « »Haltet ein, alle beide«, sagte König Kaspian. »Ich möchte vor allem wissen, worauf Nikabrik dauernd anspielt und was wir eigentlich tun sollen. Aber vorher möchte ich noch wissen, was das für zwei Fremde sind, die er mit in den Rat gebracht hat und die dort mit offenen Ohren und geschlossenen Lippen stehen.« »Das sind Freunde von mir«, entgegnete Nikabrik. »Ihr selbst ständet nicht hier, wenn Ihr nicht ein Freund von dem Dachs und von Trumpkin wäret. Und der kindliche Greis in dem schwarzen Talar hat nur das Recht, hier zu sein, weil er Euer Freund ist. Soll ich etwa der einzige sein, der keine Freunde mitbringen darf?«
»Seine Majestät ist der König, dem du die Treue geschworen hast«, bemerkte Trüffeljäger ernst.
»Hofsitten, Hofsitten«, höhnte Nikabrik. »Aber in dieser Höhle können wir offen miteinander reden. Du weißt selbst – und er weiß es –, daß dieser Knabe aus Telmar in einer Woche König von niemand und nichts sein wird, wenn wir ihm nicht aus der Patsche helfen, in die er geraten ist.« »Vielleicht«, nahm Doktor Cornelius das Wort, »möchten deine neuen Freunde für sich selbst sprechen? Du da, wer und was bist du?«
»Ehrenwerter Herr Doktor«, winselte eine dünne Stimme, »bitte, ich bin nur ein altes Weib, nichts weiter, und seiner ehrenwerten Zwergschaft sehr verbunden für seine Freundschaft. Gewißlich braucht doch Seine Majestät – gesegnet sei sein hübsches Gesicht – keine Angst vor einer alten Frau zu haben, die vor Gicht ganz zusammengekrümmt ist und keine zwei Scheite unter ihren Kessel zu werfen hat. Ich verstehe mich nur ein bißchen auf Beschwörung und armselige Zauberei – nicht zu vergleichen natürlich mit Ihrer Kunst, Herr Doktor –, die ich gern gegen unsere Feinde einsetzen will, wenn es allen hier angenehm ist. Denn ich hasse sie. O ja, niemand kann besser hassen als ich.« »Das ist alles höchst bemerkenswert und – hm – zufriedenstellend«, sagte Doktor Cornelius. »Ich glaube, ich weiß jetzt, was Sie sind, Madame. Vielleicht möchte auch dein anderer Freund etwas über sich aussagen, Nikabrik?« Eine hohle, dumpfe Stimme, bei deren Klang Peter eine Gänsehaut bekam, antwortete: »Ich bin der Hunger. Ich bin der Durst. Wo ich hinbeiße, halte ich fest, bis ich sterbe. Ich kann hundert Jahre fasten, ohne zu sterben. Ich kann hundert Nächte auf dem Eis liegen, ohne zu erfrieren.«
»Und in der Gegenwart dieser beiden willst du deinen Plan mitteilen?« fragte Kaspian.
»Ja«, antwortete Nikabrik, »und mit ihrer Hilfe hoffe ich, ihn auszuführen.«
Trumpkin und die beiden Jungen hörten, wie Kaspian eine Weile leise mit seinen beiden Freunden sprach. Sie konnten aber nicht verstehen, was gesprochen wurde. Dann sagte Kaspian laut: »Gut, Nikabrik, wir wollen deinen Plan hören.« Es folgte eine Pause, die so lang war, daß die Jungen draußen sich fragten, ob Nikabrik je beginnen werde. Als er es tat, geschah es mit so leiser Stimme, als sei ihm das, was er sagte, selbst nicht lieb.
»Bei Licht besehen«, murmelte er, »kennt keiner von uns die Wahrheit über die alten Tage von Narnia. Zum Beispiel glaubte Trumpkin an keine der Geschichten. Ich war bereit, sie einer Probe zu unterwerfen. Wir haben zuerst das Horn versucht und keinen Erfolg gehabt. Wenn es jemals einen König Peter und eine Königin Suse und einen König Edmund und eine Königin Lucy gab, so haben sie uns entweder nicht gehört, oder sie können nicht kommen, oder sie sind unsere Feinde... « »...oder sie sind unterwegs«, warf Trüffeljäger ein. »Das wirst du noch so lange sagen, bis Miraz uns alle seinen Hunden vorgeworfen hat. Wie ich eben sagte: wir haben ein Glied aus der Kette der alten Sagen untersucht, und es hat uns nichts Gutes gebracht. Gut. Aber wenn das Schwert zerbricht, zieht man den Dolch. Die Geschichten berichten noch von anderen Kräften als den alten Königen und Königinnen. Wie wäre es, wenn wir die anrufen würden?«
»Wenn du damit Aslan meinst«, entgegnete Trüffeljäger, »so ist es gleich, ob wir ihn oder die Könige anrufen. Sie waren seine Diener. Will er sie aber nicht senden – obschon ich nicht daran zweifle, daß er es doch noch tun wird –, so wird er sicherlich auch selbst nicht kommen.« »Nein. Da hast du recht«, erwiderte Nikabrik. »Aslan und die Könige gehören zusammen. Entweder ist Aslan tot, oder er steht nicht auf unserer Seite. Oder etwas, das stärker ist als er selbst, hält ihn zurück. Wenn er aber doch käme – wie wüßten wir, ob er unser Freund ist? Er war, nach allem, was man hört, nicht immer gut Freund mit den Zwergen. Nicht einmal mit allen Tieren. Frag die Wölfe. Überhaupt war er, soweit ich gehört habe, nur einmal in Narnia, und damals blieb er nicht lange. Du kannst Aslan von der Liste streichen. Ich dachte an einen anderen.« Niemand antwortete, und einige Minuten lang war es so still, daß Edmund den schnaufenden, schnüffelnden Atem des Dachses hören konnte. »Was meinst du?« fragte Kaspian endlich. »Ich meine eine Macht, die viel stärker als die Aslans ist, eine Macht, die Narnia jahrelang in Verzauberung hielt, wenn den Sagen zu trauen ist.«
»Die Weiße Hexe!« riefen drei Stimmen auf einmal, und an dem danach entstehenden Geräusch erriet Peter, daß drei Personen aufgesprungen waren.
»Ja«, antwortete Nikabrik sehr langsam und sehr deutlich. »Ich meine die Hexe. Setzt euch wieder. Ängstigt euch nicht vor einem Namen, als wenn ihr Kinder wäret. Wir brauchen Macht, und wir brauchen eine Macht, die auf unserer Seite steht. Sagten nicht die Geschichten über die Macht der Hexe aus, wie sie Aslan besiegte, ihn fesselte und ihn auf jenem Stein tötete, der sich dort – genau unter dem Licht – befindet?« »Aber sie sagen auch aus, daß er wieder zum Leben erwachte«, bemerkte der Dachs scharf.
»Ja, sie sagten«, antwortete Nikabrik. »Aber ihr werdet bemerkt haben, daß man äußerst wenig von dem hört, was er nachher tat. Er verschwindet einfach aus der Geschichte. Wie erklärt ihr euch das, wenn er wirklich ins Leben zurückkam? Ist es nicht viel wahrscheinlicher, daß die Geschichten nichts von ihm berichten, weil es nichts mehr zu berichten gab?« »Er setzte die Könige und die Königinnen ein«, sagte Kaspian. »Ein König, der gerade eine große Schlacht gewonnen hat, kann sich gewöhnlich selbst einsetzen und braucht dazu nicht die Hilfe eines für ihn handelnden Löwen«, entgegnete Nikabrik. Darauf folgte ein grimmiges Brummen, anscheinend von Trüffeljäger. »Und außerdem«, fuhr Nikabrik fort, »was wurde aus den Königen und ihrer Regierung? Sie verschwanden ebenfalls. Aber mit der Hexe ist es ganz anders. Sie herrschte, wie man sagt, hundert Jahre lang, hundert Winterjahre. Das ist Macht, wie ihr zugeben werdet. Das ist etwas Greifbares.« »Aber, Himmel und Erde«, rief der König, »hat man uns nicht immer erzählt, sie sei der schlimmste Feind von allen? War sie nicht eine zehnfach schlimmere Tyrannin als Miraz?« »Vielleicht«, sagte Nikabrik mit kalter Stimme, »vielleicht war sie das für euch menschliche Wesen, wenn es damals solche gab. Vielleicht war sie es auch für einige Tiere. Soviel ich weiß, hat sie die Biber ausgerottet. Wenigstens gibt es in Narnia jetzt keine mehr davon. Aber mit uns Zwergen ist sie gut ausgekommen. Ich bin ein Zwerg, und ich stehe zu meinem Volk. Wir fürchten uns nicht vor der Hexe.« »Aber du hast dich mit uns verbunden«, hielt ihm Trüffeljäger entgegen.