»Wir brauchen ein Lagerfeuer, wenn wir die Nacht hier verbringen müssen«, sagte Peter. »Streichhölzer habe ich bei mir. Wir wollen losgehen und nach trockenem Holz suchen.« Das sahen alle ein, und sie waren in der nächsten halben Stunde gut beschäftigt. Im Obstgarten, durch den sie zuerst die Ruine erreicht hatten, war kein Feuerholz zu finden. Sie versuchten es auf der anderen Seite des Schlosses, nachdem sie die Halle durch eine kleine Seitentür verlassen hatten und in einen Irrgarten von steinigen Erhebungen und Löchern geraten waren, die einmal Durchgänge und kleine Räume gewesen sein mußten, jetzt aber von Nesseln und wilden Rosen überwuchert waren. Dahinter fanden sie eine breite Öffnung in der Schloßmauer, durch die sie in einen Wald voll hoher, dunkler Bäume gelangten. Hier fanden sie in Mengen tote Äste, verfaultes Holz, Knüppel, trockenes Laub und Tannenzapfen. Mit Bündeln davon gingen sie so lange hin und her, bis sie einen großen Haufen auf dem Podium beisammen hatten. Bei ihrem fünften Gang stießen sie gerade außerhalb der Halle auf den zwischen Unkraut versteckten Brunnen. Es zeigte sich, daß er sauber, frisch und tief war, als sie das Unkraut beseitigt hatten. Die Überreste eines Steinpflasters liefen halbwegs um ihn herum. Während die Mädchen fortgingen, um weitere Äpfel zu pflücken, legten die Jungen das Feuer an. Sie wählten dafür eine Stelle auf dem Podium im Winkel zwischen zwei Mauern, weil sie dies für den wärmsten und gemütlichsten Platz hielten. Es war nicht leicht, das Holz anzuzünden, und sie verbrauchten dabei viele Zündhölzer, aber schließlich hatten sie Erfolg. Endlich ließen sich alle vier mit den Rücken gegen die Mauer und den Gesichtern zum Feuer nieder.
Sie hätten gern auf spitzen Stöcken einige Äpfel gebraten. Aber Bratäpfel schmecken meistens ohne Zucker nicht besonders gut. Sie sind zudem zu heiß, als daß man sie mit den Fingern essen könnte. Sind sie aber erst abgekühlt, so schmecken sie längst nicht mehr so gut. Also mußten sich die Kinder mit rohen Äpfeln begnügen. Hierbei bemerkten sie, was besonders Edmund feststellte, daß das Schulessen doch gar nicht so schlecht ist. »Ich hätte im Augenblick gar nichts gegen eine gute, dicke Scheibe Brot mit Margarine«, fügte er hinzu. Aber der Abenteuergeist regte sich, und keiner wünschte sich wirklich in die Schule zurück.
Bald nachdem der letzte Apfel verspeist war, ging Suse zum Brunnen, um noch einmal zu trinken. Als sie zurückkam, trug sie etwas in der Hand.
»Seht mal!« sagte sie mit ziemlich beklommener Stimme. »Dies fand ich am Brunnen.« Sie reichte es Peter und setzte sich. Dabei sah sie so aus und sprach so – jedenfalls kam es den anderen so vor –, als wollte sie gleich anfangen zu weinen. Edmund und Lucy beugten sich eifrig vor, um zu sehen, was in Peters Hand lag – ein kleines, helles Ding, das im Schein des Feuers glänzte. »Na, ich – ich bin platt«, sagte Peter, und seine Stimme klang ebenfalls merkwürdig. Dann überreichte er es den anderen. Alle erkannten jetzt, was es war – der Springer eines Schachspiels in gewöhnlicher Größe, aber außergewöhnlich schwer, denn er bestand aus reinem Gold, und die Augen des Pferdchens waren zwei winzige Rubine – das heißt, es war nur noch einer vorhanden, der andere war herausgefallen.
»Nanu!« meinte Lucy. »Das Pferdchen ist genau wie eine von den goldenen Schachfiguren, mit denen wir spielten, als wir noch Könige und Königinnen in Feeneden waren.« »Kopf hoch, Suse«, sagte Peter zu seiner anderen Schwester. »Ich kann mir nicht helfen«, antwortete Suse, »ach, das erinnert mich so an die wunderbaren Zeiten. Ich muß daran denken, wie ich mit Faunen und guten Riesen Schach spielte und wie die Meermädchen im Meer sangen und an mein schönes Pferd und – und... « »Nun denn«, sprach Peter mit gänzlich veränderter Stimme, »jetzt müssen wir endlich ernsthaft nachdenken.« »Weshalb?« fragte Edmund.
»Hat keiner von euch erraten, wo wir uns befinden?« fragte Peter.
»Schieß los, Peter«, sagte Lucy, »ich fühle schon seit Stunden: irgendein wundervolles Geheimnis schwebt über diesem Platz.« »Los, Peter«, sagte auch Edmund. »Wir sind alle gespannt.« »Wir befinden uns in der Ruine von Feeneden«, sagte Peter. »Na, hör mal«, entgegnete Edmund, »wie kommst du denn darauf? Dieser Platz ist seit Jahren verfallen. Schau dir doch die großen Bäume an, die an den Toren wachsen. Und diese Steine! Man kann doch sehen, daß hier seit Jahrhunderten niemand gelebt hat.«
»Ich weiß«, antwortete Peter, »das macht es so schwierig, aber daran wollen wir im Augenblick nicht denken. Ich möchte die Punkte einen nach dem anderen vornehmen: Erster Punkt: Diese Halle ist genau von der gleichen Form und Größe wie diejenige in Feeneden. Stellt euch nur ein Dach hierüber vor, einen farbigen Fußbelag statt Gras und Teppiche an den Wänden, so habt ihr eure königliche Festhalle.« Niemand sagte ein Wort. »Punkt zwei«, fuhr Peter fort: »Der Schloßbrunnen ist an der gleichen Stelle, wo unser Brunnen war, etwas südlich der großen Halle; und er ist genau von der gleichen Form und Größe.« Wieder folgte keine Antwort. »Punkt drei: Suse hat eine unserer alten Schachfiguren gefunden – oder etwas, das ihr gleicht wie eine Erbse der anderen.« Noch antwortete niemand.
»Punkt vier: Erinnert ihr euch nicht, wie wir vor dem Nordtor von Feeneden einen Obstgarten anlegen ließen – es war übrigens an dem Tag, als die Botschafter des Königs von Kalormen kamen? Die Fee Pomona selbst war erschienen, um einen guten Zauber darüberzubreiten. Die netten, kleinen Maulwurfkerlchen besorgten das Graben. Habt ihr etwa den drolligen, alten Lilienhandschuh vergessen, den Obermaulwurf, der sich auf seinen Spaten lehnte und sagte: ›Glaubt mir, Majestät, es wird ein Tag kommen, an dem Ihr über diese Früchte sehr froh sein werdet!‹ Und hatte er nicht recht?« »Ich jedenfalls bin sehr froh darüber«, sagte Lucy und klatschte in die Hände.
»Aber hör mal, Peter«, widersprach Edmund. »Das ist doch Unsinn. Also zunächst einmaclass="underline" wir wären doch nicht so töricht gewesen, einen Obstgarten direkt gegen das Tor zu pflanzen.« »Nein, natürlich nicht«, antwortete Peter, »aber er hat sich seitdem bis ans Tor ausgebreitet.«
»Und zum anderen«, fuhr Edmund fort, »stand Feeneden nicht auf einer Insel.«
»Ja, darüber habe ich auch nachgedacht. Aber es stand auf einer – wie nennt sich das doch gleich –, auf einer Landzunge – fast einer Insel. Kann sie nicht seit unserer Zeit zu einer Insel geworden sein? Kann nicht jemand hier einen Kanal gegraben haben?«
»Aber noch ein Augenblickchen!« entgegnete Edmund. »Du redest immer von seit unserer Zeit. Dabei ist es erst ein Jahr her, seit wir aus Narnia zurückkamen. Und du tust nun so, als wenn in einem Jahr Schlösser verfallen, große Wälder wachsen und kleine Bäume, die unter unseren Augen gepflanzt wurden, sich in einen großen, alten Obstgarten verwandeln können und wer weiß was noch alles. Das ist doch alles ein Unding.«
»Es gäbe einen Beweis«, meinte Lucy. »Wenn dies Feeneden ist, so müßte sich an der Rückseite des Podiums eine Tür befinden. Dann sitzen wir jetzt gerade mit den Rücken dagegen. Ihr wißt doch – die Tür, die in die Schatzkammer führt.« »Ich glaube nicht, daß da eine Tür ist«, zweifelte Peter und stand auf.
Die Mauer hinter ihnen war ein Wall von Efeu. »Das können wir schnell feststellen«, meinte Edmund und ergriff einen der Knüppel, die zum Nachlegen auf das Feuer bereitlagen. Er begann, die efeubedeckte Mauer abzuklopfen. Klapp-klapp machte der Stock gegen den Stein und wieder klapp-klapp und dann ganz plötzlich bumm-bumm mit einem ganz anderen Ton, mit einem hohlen, hölzernen Laut. »Das ist ja toll«, rief Edmund aus. »Den Efeu müssen wir forträumen«, sagte Peter. »Ach, laßt lieber die Hände davon«, meinte Suse. »Wir können es morgen früh versuchen. Wenn ich eine Nacht hier verbringen muß, möchte ich im Rücken keine offene Tür, kein großes, dunkles Loch haben. Wer weiß, was da außer Zugluft und Feuchtigkeit alles herauskommen kann. Außerdem wird es bald dunkel.«