»Hier ist es, Mütterchen«, bemerkte Bacchus, tauchte einen Krug in den Brunnen der Hütte und reichte ihn ihr. Aber im Brunnen befand sich nun kein Wasser mehr, sondern schwerer Wein – rot wie Johannisbeergelee, dickflüssig wie Öl, stark wie Fleischsaft, heiß wie Tee, kühl wie Tau. »Herrje, was hast du denn mit unserem Brunnen gemacht?« fragte die alte Frau. »Der hat sich aber sehr verändert; wirklich sehr viel besser ist er geworden.« Und damit sprang sie aus dem Bett. »Reite auf mir«, sprach Aslan und wandte sich an Suse und Lucy mit den Worten: »Ihr beiden Königinnen müßt jetzt laufen.« »Aber das tun wir ebenso gern«, antwortete Suse. Und weiter ging es.
So kamen sie schließlich hüpfend, tanzend und singend, mit Musik und Gelächter, brüllend und bellend und wiehernd alle dorthin, wo Miraz’ Männer standen, die Waffen fortgeworfen und die Arme erhoben hatten. Peters Heer stand im Kreis darum. Seine Leute hatten ihre Waffen in der Hand, atmeten noch schwer und schauten mit ernsten, aber frohen Gesichtern um sich. Das erste, was nun geschah, war, daß die alte Frau von Aslans Rücken glitt und zu Kaspian hinüberlief. Herzlich umarmten sie einander; sie war seine alte Kinderfrau.
15. Aslan öffnet in der Luft eine Tür
Als die Telmarer Aslan sahen, wurden ihre Gesichter aschgrau; ihre Knie zitterten, und manche fielen auf ihre Gesichter. Sie hatten nicht an Löwen geglaubt; darum war ihre Angst jetzt um so größer. Selbst die Rotzwerge, die wußten, daß er als Freund kam, standen mit offenen Mündern da und konnten nichts hervorbringen. Einige von den Schwarzzwergen, die zu Nikabriks Gruppe gehörten, versuchten, sich davonzumachen. Aber alle Sprechenden Tiere drängten sich um den Löwen; sie schnurrten und grunzten und quiekten und wieherten vor Freude, umschmeichelten ihn mit ihren Schwänzen, rieben sich an ihm, berührten ihn ehrfurchtsvoll mit den Nasen und krochen unter seinem Körper hindurch und zwischen seinen Beinen hin und her. Wenn ihr jemals beobachtet habt, wie eine kleine Katze mit einem großen Hund umgeht, den sie liebt und dem sie traut, so habt ihr ein ganz gutes Bild von dem, wie sich diese Tiere benahmen. Dann erzwang sich Peter, der Kaspian führte, den Weg durch die Menge der Tiere.
»Dies ist Kaspian, Herr«, sagte er. Kaspian kniete nieder und küßte des Löwen Tatze.
»Willkommen, Prinz«, sprach Aslan. »Glaubst du geeignet zu sein, das Königreich Narnia zu übernehmen?« »Ich – ich glaube nicht, Herr«, erwiderte Kaspian. »Ich bin wohl noch zu jung.«
»Gut«, sagte Aslan. »Hättest du dich selbst für geeignet gehalten, so wäre es ein Beweis dafür gewesen, daß du es nicht bist. Darum sollst du nun unter uns und unter Peter dem Prächtigen der König von Narnia sein, der Herr von Feeneden und der Kaiser der Einsamen Eilande, du und deine Erben, solange dein Stamm lebt Und deine Krönung – aber was ist denn hier los?« In diesem Augenblick nämlich näherte sich eine merkwürdige, kleine Prozession – elf Mäuse, von denen sechs zwischen sich etwas auf einer Bahre trugen, die aus Zweigen gemacht, aber nicht größer als ein Buch war. Man könnte sich keine traurigeren Mäuse als diese vorstellen. Sie waren mit Schlamm beschmiert, einige auch mit Blut, ihre Ohren hingen herab, ihre Barthaare waren zerzaust, ihre Schwänze schleiften durch das Gras, und ihr Anführer blies auf einer zarten Flöte eine wehmütige Melodie. Auf der Bahre lag etwas, was nicht besser aussah als ein Häufchen feuchten Pelzwerkes, alles, was von Riepischiep übrig war. Er atmete zwar noch, war aber mehr tot als lebendig, bedeckt mit unzähligen Wunden, hatte eine zerquetschte Pfote, und wo sein Schwanz gewesen war, hing ein verbundener Stumpf. »Das ist etwas für dich, Lucy«, meinte Aslan. Augenblicks brachte Lucy ihre Diamantflasche herbei. Obwohl nur ein einziger Tropfen für jede von Riepischieps Wunden nötig war, herrschte eine lange und angsterfüllte Stille, bevor sie die vielen Wunden behandelt hatte und der Mäuseheld von der Bahre sprang. Sofort fuhr seine eine Hand an das Heft des Schwertes; mit der anderen zwirbelte er seinen Bart. Er verbeugte sich. »Heil, Aslan«, ertönte seine helle Stimme. »Ich habe die Ehre...« Aber dann hielt er plötzlich inne. Er hatte nämlich keinen Schwanz mehr – sei es, daß Lucy diesen vergessen hatte, sei es, daß ihr Heilmittel zwar Wunden heilen, aber keine Glieder wieder wachsen lassen konnte. Jedenfalls gewahrte Riepischiep diesen Verlust, als er sich verbeugte; vielleicht hatte sich sein Gleichgewicht dadurch verschoben. Er blickte über seine rechte Schulter. Da er seinen Schwanz nicht sehen konnte, spannte er seinen Hals so lange an, bis er auch seine Schultern drehen mußte, und dann folgte der ganze Körper. Inzwischen hatte sich aber auch sein Hinterteil gedreht und war nicht mehr zu sehen. Darauf spannte er seinen Hals erneut an, um über seine Schulter zu sehen – mit dem gleichen Ergebnis. Erst nachdem er sich dreimal um sich selbst gedreht hatte, wurde ihm die schreckliche Wahrheit bewußt. »Ich bin außer mir«, sagte Riepischiep zu Aslan. »Ich kann mich gar nicht fassen. Ich muß Eure Nachsicht erbitten, daß ich in dieser ungehörigen Aufmachung vor Euch erscheine.« »Es steht dir sehr gut, mein Kleiner«, antwortete Aslan. »Dennoch«, erwiderte Riepischiep, »wenn etwas dagegen getan werden könnte ... vielleicht Ihre Majestät«, und damit verbeugte er sich vor Lucy.
»Aber wozu brauchst du denn den Schwanz?« fragte Aslan. »Sire«, entgegnete die Maus, »ich kann essen und schlafen und für meinen König sterben ohne einen solchen. Aber der Schwanz ist der Stolz und die Ehre einer Maus.« »Ich habe mich schon manchmal gefragt, mein Freund«, sprach Aslan, »ob du nicht reichlich viel über deine Ehre nachdenkst.« »Höchster aller großen Könige«, erwiderte Riepischiep, »erlaube mir, dich daran zu erinnern, daß wir Mäuse nur mit sehr geringer Größe ausgestattet wurden. Wenn wir nicht auf unsere Würde achten wollten, so würden manche, die uns nicht das Wasser reichen können, sich auf unsere Kosten sehr unpassende Scherze erlauben. Darum habe ich keine Mühe gescheut, alle immer wieder davor zu warnen, in meiner Gegenwart abfällig über Mäuse zu reden. Wer es dennoch tut, läuft Gefahr, dieses Schwert so nahe an seinem Herzen zu fühlen, wie ich nur reichen kann. Nein, Sire, nicht einmal die größten Toren in Narnia dürften das.« Hiebei blickte Riepischiep herausfordernd an Wetterfest hinauf, aber der Riese, der immer eine Nasenlänge hinter allem herhinkte, hatte noch nicht begriffen, was zu seinen Füßen gesprochen wurde, und verstand darum auch diese letzte Bemerkung nicht. »Warum haben deine Anhänger alle ihr Schwert gezogen, wenn ich fragen darf?« sagte Aslan. »Mit der Erlaubnis Eurer Hohen Majestät«, begann die zweite Maus, deren Name Pierischiep war, »wir sind alle bereit, uns die Schwänze abzuschlagen, falls unser Anführer ohne einen solchen auskommen muß. Wir wollen – bei unserer Ehre – keine Auszeichnung tragen, die der Großen Maus verwehrt ist.« »Ah!« brüllte Aslan. »Ihr habt mich besiegt. Ihr habt tapfere Herzen. Du sollst deinen Schwanz zurückerhalten, Riepischiep – nicht deiner Würde wegen, sondern wegen der Liebe, die zwischen dir und deinem Volk ist, und mehr noch wegen der Freundlichkeit, die mir dein Volk vor langer Zeit erwies, als es die Fesseln abnagte, die mich an den Steinernen Tisch banden. Seit jener Zeit übrigens seid ihr Sprechende Mäuse, falls du es vergessen haben solltest.« Bevor Aslan noch geendet hatte, war der neue Schwanz an seinem Platz. Dann schlug Peter auf Aslans Befehl Kaspian zum Ritter des Löwenordens. Kaspian, nachdem er selbst zum Ritter gemacht worden war, verlieh die Ehre an Trüffeljäger, Trumpkin und Riepischiep. Er machte Doktor Cornelius zu seinem Kanzler und bestätigte den Wohlbeleibten Bären in seinem Erbamt als Kampfrichter. Es gab großen Beifall. Hierauf wurden die Soldaten von Telmar, streng bewacht, aber ohne sie zu verhöhnen oder zu schlagen, durch die Furt gebracht und in Beruna hinter Schloß und Riegel gesetzt. Man gab ihnen Fleisch und Bier. Sie stellten sich sehr an, als sie durch das Wasser waten mußten, weil sie alles fließende Wasser genauso haßten und fürchteten, wie sie Wälder und Tiere haßten und fürchteten. Aber endlich war die Aufregung vorüber, und dann begann der schönste Teil dieses langen Tages. Lucy, die dicht bei Aslan saß und sich überaus wohl fühlte, wunderte sich über das, was die Bäume taten. Erst dachte sie, daß sie nur tanzten. Tatsächlich bewegten sie sich langsam in zwei Kreisen; die einen gingen von links nach rechts und die anderen von rechts nach links. Dann bemerkte sie, wie die Bäume ständig etwas in die Mitte dieser Kreise warfen. Manchmal glaubte Lucy, sie schnitten lange Fasern von ihrem Haar ab. Manchmal sah es so aus, als wenn sie etwas von ihren Fingern abbrachen, aber, so dachte sie, sie haben viele Finger, die sie abgeben können, und es tut ihnen nicht weh. Was sie aber auch hinunterwarfen, alles wurde, sobald es den Boden berührte, zu Feuerholz und trockenen Knüppeln. Darauf kamen drei oder vier von den Rotzwergen mit ihren Feuerzeugen herbei und setzten den Haufen in Brand, der zuerst knisterte, dann aufflackerte und endlich wie ein ländliches Freudenfeuer zur Sonnenwende heulend aufbrauste. Und alle setzten sich in einen weiten Kreis darum. Dann fingen Bacchus und die Mänaden an zu tanzen, und es war viel wilder als der Tanz der Bäume. Nicht nur war es ein Tanz der Schönheit und Freude, wenngleich es das auch war, sondern ein Zaubertanz der Fülle. Wohin ihre Hände rührten und wohin ihre Füße traten, entstand das festliche Beiwerk. Große Stücke gebratenen Fleisches erfüllten den Hain mit köstlichem Duft; überall gab es Weizenkuchen und Haferkuchen, Honig und vielfarbigen Zucker und Sahne, so dick wie Hafergrütze und so glatt wie ruhiges Wasser, Pfirsiche, Aprikosen, Granatäpfel, Birnen, Trauben, Erdbeeren, Himbeeren – Pyramiden und Wasserfälle von Früchten. Dann kam in großen hölzernen Gefäßen und Schalen und in edlen, efeubekränzten Bechern der Wein, dunkler dickflüssiger, stark wie Obstsaft, und hellroter wie füssiges Gelee und gelbe und grüne Weine und gelbgrüne und grüngelbe. Den Baumleuten wurde noch andere Nahrung geboten. Als Lucy bemerkte, wie Klumpenschaufler und seine Maulwürfe den Rasen an mehreren Stellen, die Bacchus ihnen bezeichnet hatte, aufwarfen, und erkannte, daß die Bäume Erde essen wollten, schauderte sie etwas. Aber als sie die Erdsorten betrachtete, die ihnen gebracht wurden, änderte sie ihre Meinung. Die Bäume begannen mit fettem, braunem Lehm, der so ähnlich wie Schokolade aussah – tatsächlich so schokolodenähnlich, daß Edmund ein Klümpchen davon probierte, aber er fand ihn ganz und gar nicht genießbar. Nachdem der fette Lehm den ersten Hunger der Bäume gestillt hatte, wandten sie sich einer Sorte zu, die etwas rötlich aussah. Man findet so etwas im Land der Roten Erde. Sie behaupteten, diese Sorte sei leichter und süßer. Als Käsegang bekamen sie einen kalkigen Boden, und dann gingen sie zu delikatem Konfekt über aus den feinsten Kiessorten mit ausgesuchtem Silbersand bestreut. Sie tranken nur sehr wenig Wein, und das bißchen machte die Stechpalmen schon sehr redselig; im wesentlichen löschten sie ihren Durst in tiefen Zügen aus einer Mischung von Tau und Regen mit Waldblumengeschmack und dem duftigen Aroma leichter Wölkchen. So bewirtete Aslan die Narnianen, bis die Sonne längst untergegangen war und die Sterne hervorkamen. Das große Feuer, das jetzt heißer, aber weniger geräuschvoll brannte, strahlte wie ein Leuchtzeichen in den dunklen Wäldern. Die verängstigten Telmarer sahen es von weitem und fragten sich, was das wohl sein könne. Das schönste an diesem Fest war: niemand brach auf, und keiner ging fort. Als die Unterhaltung ruhiger und langsamer wurde, ließ allmählich einer nach dem anderen den Kopf hängen und schlief fest ein – mit den Füßen zum Feuer und guten Freunden zu beiden Seiten –, bis endlich Schweigen über dem Kreis lag. Wieder war das Geplätscher des Wassers über die Steine am Fuß der Festung Beruna zu hören. Aslan und der Mond schauten einander während der ganzen Nacht mit freudevollen, immer wachen Augen an. Am nächsten Tag wurden Boten – meistens Eichhörnchen und Vögel – durch das ganze Land geschickt mit einem Aufruf an die verstreuten Telmarer, einschließlich natürlich der Gefangenen von Beruna. Es wurde ihnen mitgeteilt, Kaspian sei jetzt König und Narnia gehöre künftig den Sprechenden Tieren, den Zwergen, den Waldnymphen, den Faunen und anderen Geschöpfen genauso wie den Menschen. Alle, die bereit seien, unter den neuen Bedingungen im Lande zu bleiben, könnten es tun. Für diejenigen, denen diese Änderung nicht gefalle, werde Aslan eine andere Heimat beschaffen. Jeder, der dorthin gehen wolle, möge am Mittag des fünften Tages zu Aslan und den Königen nach der Festung Beruna kommen.