3. Der Zwerg
Es ist nicht schlecht, im Freien zu schlafen, aber es hat den großen Nachteil, daß man so ungewohnt früh aufwacht. Ist man aber aufgewacht, so muß man aufstehen, weil der Boden so ungemütlich hart ist. Dieses Aufwachen wird noch schlimmer dann, wenn es zum Frühstück nur Äpfel gibt, nachdem es schon am Abend zuvor nur Äpfel gegeben hat. Als Lucy nach dem Wetter geschaut und festgestellt hatte, was für ein herrlicher Morgen es war, wußte keiner etwas zu sagen, was die Stimmung der Kinder gebessert hätte. Edmund sprach das aus, was alle empfanden: »Wir müssen schnell von dieser Insel herunter!« Sie tranken am Brunnen, spritzten dann ihre Gesichter ab und gingen am Bach entlang wieder an die Küste. Dort starrten sie in den Wasserarm, der sie vom Festland trennte. »Wir müssen schwimmen«, meinte Edmund. »Suse könnte das gut machen«, äußerte Peter. (Suse hatte in der Schule mehrere Schwimmpreise errungen.) »Aber ich weiß nicht, wie es mit uns anderen steht.« Mit »uns anderen« meinte er vor allem Edmund, der sich in der Schulbadeanstalt immer noch nicht freigeschwommen hatte, und Lucy, die überhaupt nicht schwimmen konnte.
»Außerdem«, meinte Suse, »muß man mit Strömungen rechnen. Vater hält es nicht für ratsam, an einer Stelle zu baden, die man nicht kennt.«
»Peter«, sagte Lucy, »paß mal auf! Ich weiß natürlich, daß ich zu Hause – ich meine in England – um keinen Preis schwimmen kann. Aber konnten wir nicht alle vor langer Zeit – wenn es überhaupt so lange her ist – schwimmen? Damals, als wir noch in Narnia regierten? Wir konnten damals doch auch reiten und alles mögliche sonst noch. Was hältst du davon?« »Ja, aber wir waren damals sozusagen erwachsen«, erwiderte Peter. »Wir regierten viele Jahre und lernten dabei viele Dinge. Wurden wir aber nicht inzwischen wieder in unser eigentliches Alter zurückversetzt?«
»Oh!« sagte da plötzlich Edmund mit einer Stimme, die alle schweigen und aufhorchen ließ. »Jetzt wird mir alles klar«, fuhr er fort. »Was wird dir klar?« fragte Peter. »Nun, die ganze Sache«, antwortete Edmund. »Ihr wißt doch noch, worüber wir uns gestern abend den Kopf zerbrachen. Für uns ist nur ein Jahr vergangen, seit wir Narnia verlassen haben, aber alles sieht so aus, als hätte seit Hunderten von Jahren niemand in Feeneden gelebt. Versteht ihr mich noch nicht? Ihr wißt doch noch, daß – einerlei, wie lange wir auch in Narnia gelebt haben mögen – anscheinend keine Zeit verstrichen war, als wir durch den Wandschrank zurückkehrten.« »Red weiter«, sagte Suse. »Ich glaube, ich begreife allmählich.« »Und das heißt«, fuhr Edmund fort, »daß man, wenn man einmal außerhalb Narnias ist, keine Ahnung hat, wie die Zeit in Narnia läuft. Warum sollten in Narnia nicht Hunderte von Jahren vergangen sein, während bei uns in England nur ein einziges Jahr verstrichen ist?«
»Donnerwetter, Edi«, sagte Peter. »Du scheinst es erfaßt zu haben. So betrachtet, mag es Hunderte von Jahren her sein, als wir in Feeneden lebten. Und jetzt kehren wir nach Narnia zurück, gerade als seien wir Kreuzfahrer oder Angelsachsen, die ins moderne England zurückkommen.« »Wie aufregend es wohl für all die anderen ist, wenn sie uns sehen –« begann Lucy. Da aber rief im gleichen Augenblick jemand »Schsch!« und »Achtung!« Denn nun ereignete sich etwas.
Etwas rechts von ihnen bildete das Festland eine bewaldete Zunge. Die Kinder waren überzeugt, daß gleich hinter dieser Spitze die Mündung des Flusses war. Nun kam um diese Landzunge herum ein Boot in Sicht. Als es sie umschifft hatte, wandte es und fuhr den Wasserarm aufwärts auf sie zu. An Bord befanden sich zwei Männer. Der eine ruderte; der andere saß im Heck und hielt ein Bündel, das so zuckte und sich bewegte, als sei es lebendig. Die zwei schienen Soldaten zu sein. Sie trugen Helme auf den Köpfen und hatten leichte Kettenpanzer an. Ihre Gesichter waren bärtig und hart. Die Kinder zogen sich vom Strand in den Wald zurück und beobachteten sie, ohne sich zu rühren.
»Das genügt«, sagte der Soldat im Heck, als das Boot etwa auf ihrer Höhe angekommen war.
»Soll ich ihm einen Stein an die Füße binden, Korporal?« fragte der andere und ruhte sich auf den Riemen aus. »Unsinn!« knurrte der erste. »Einen Stein brauchen wir nicht, und übrigens haben wir auch keinen bei uns. Er wird auch ohne Stein todsicher ertrinken, wenn die Stricke fest gebunden sind.« Mit diesen Worten erhob er sich und nahm das Bündel auf. Peter sah jetzt, daß es wirklich lebendig war. Was da zappelte, war ein Zwerg, den man an Händen und Füßen gefesselt hatte. Trotzdem wehrte er sich nach Kräften. Unmittelbar darauf hörte dieser Zwerg etwas an seinem Ohr vorbeischwirren, worauf der Soldat die Arme hochwarf, ihn ins Boot fallen ließ und selbst über Bord kippte. Er suchte an das jenseitige Ufer zu entkommen, und Peter war es klar, daß Suses Pfeil seinen Helm getroffen hatte. Er wandte sich um und sah, daß sie zwar sehr blaß geworden, aber schon wieder damit beschäftigt war, einen zweiten Pfeil an die Sehne zu legen. Dieser wurde allerdings nicht mehr gebraucht. Kaum sah der andere Soldat seinen Kameraden umfallen, als er laut schreiend auf der entgegengesetzten Seite aus dem Boot sprang, ebenfalls durch das Wasser entwich, in dem er augenscheinlich gerade stehen konnte, und in den Wäldern des Festlandes verschwand. »Schnell! Ehe es abtreibt!« rief Peter. Er und Suse sprangen in voller Kleidung ins Wasser. Ehe dieses ihre Schultern erreicht hatte, waren ihre Hände an der Bootswand. Nach kurzer Zeit hatten sie das Fahrzeug ans Ufer gezogen. Sie hoben den Zwerg heraus, und Edmund machte sich eifrig ans Werk, die Fesseln mit einem Taschenmesser zu zerschneiden. (Peters Schwert war schärfer, aber für eine solche Arbeit ist ein Schwert nicht geeignet, weil man es nur am Heft anfassen kann.) Als der Zwerg frei war, rieb er sich Arme und Beine und rief aus:
»Was auch immer geredet wird – ihr seht nicht so aus wie Geister!«
Wie die meisten Zwerge war er recht stämmig und breitbrüstig. Stehend hätte er wohl einen Meter gemessen. Ein riesiger Vollbart und ein Schnurrbart aus struppigem, rotem Haar ließen von seinem Gesicht nur die schnabelartige Nase und zwinkernde, schwarze Augen frei.
»Was ihr auch sein mögt«, fuhr er fort, »Geister oder nicht, Ihr habt mir das Leben gerettet, und ich bin euch zu großem Dank verpflichtet.«
»Warum sollen wir denn Geister sein?« fragte Lucy. »Mein Leben lang hat man mir erzählt«, berichtete der Zwerg, »daß in diesen Wäldern ebenso viele Geister wie Bäume sind. Es ist nämlich bei uns so: jemanden, den man los sein will, bringt man gewöhnlich hierher – wie man es mit mir machte – und sagt dann, man überließe ihn den Geistern. Ich habe mich schon immer gefragt, ob man die armen Opfer nicht etwa umbringt. Diese beiden Feiglinge, die ihr eben angeschossen habt, glaubten bestimmt an Geister. Sie hatten mehr Angst, mich zum Tode zu befördern, als ich hatte, zum Tode geführt zu werden.«
»Ach«, meinte Suse, »darum flohen sie also beide?« »Wieso? Was heißt das?« fragte der Zwerg. »Ich wollte sie nämlich nicht erschießen«, sagte Suse. Es wäre ihr peinlich gewesen, wenn jemand etwa angenommen hätte, sie könne auf eine so kurze Entfernung nicht treffen. »Hm«, machte der Zwerg. »Das ist ungünstig. Das kann später unangenehm für uns werden, falls die beiden nicht ihren Mund halten. Aber vielleicht reden sie nicht, um sich nicht selbst zu schaden.«
»Warum wollten sie dich denn ertränken?« fragte Peter. »Oh, ich bin ein ganz gefährlicher Verbrecher – das könnt ihr mir glauben«, antwortete der Zwerg vergnügt. »Aber das ist eine lange Geschichte. Zuerst möchte ich gern wissen, ob ihr mich zum Frühstück einladet. Ihr glaubt gar nicht, was man für einen Appetit bekommt, wenn man hingerichtet werden soll.« »Hier gibt’s nur Äpfel«, antwortete Lucy kummervoll. »Besser als gar nichts, aber nicht so gut wie frische Fische«, sagte der Zwerg. »Dann muß ich umgekehrt wohl euch zum Frühstück einladen. Im Boot sah ich etwas Angelzeug. Übrigens müssen wir den Kahn auf die andere Seite der Insel bringen. Wir wollen doch vermeiden, daß jemand ihn vom Ufer des Festlandes aus sieht.«