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»Laß das sein«, sagte sein Onkel, packte Kaspian an der Schulter und schüttelte ihn. »Hör auf. Und laß dich niemals wieder von mir dabei erwischen, daß du über diese dummen Geschichten sprichst oder auch nur nachdenkst. Es gab niemals solche Könige und Königinnen. Wie hätte es auch zwei Könige zur gleichen Zeit geben können? Und es gibt auch kein Wesen namens Aslan. Auch solche Geschöpfe wie Löwen existieren nicht. Und niemals gab es eine Zeit, in der die Tiere sprechen konnten. Verstehst du?« »Ja, Onkel«, schluchzte Kaspian.

»Dann wollen wir nicht mehr davon reden«, schloß der Onkel. Darauf rief er einen der Kammerherren, die am anderen Ende der Terrasse warteten, und befahl ihm mit kalter Stimme: »Führen Sie Seine Königliche Hoheit in seine Gemächer, und senden Sie mir sofort die Kinderfrau Seiner Königlichen Hoheit.« Am nächsten Morgen wurde Kaspian klar, was er Schreckliches angerichtet hatte. Seine Kinderfrau war fortgeschickt worden, ohne daß man ihr erlaubt hatte, von ihm Abschied zu nehmen, und ihm sagte man, er werde einen Hauslehrer bekommen. Kaspian vermißte seine Kinderfrau sehr und vergoß viele Tränen ihretwegen. Weil er aber so unglücklich war, dachte er mehr als je zuvor an die alten Geschichten aus Narnia. Er träumte jede Nacht von Zwergen und Nymphen und versuchte bei Tag mit viel Mühe, die Hunde und Katzen im Schloß zum Sprechen zu bewegen. Aber die Hunde wedelten nur mit den Schwänzen, und die Katzen schnurrten.

Kaspian war überzeugt, daß er den neuen Hauslehrer hassen werde. Aber dieser neue Hauslehrer, der nach ungefähr einer Woche auftauchte, war ein Mensch, dem man unmöglich gram sein konnte. Er war so klein und dick, wie Kaspian noch keinen Mann gesehen hatte, und trug einen langen, silbergrauen Spitzbart, der ihm bis zum Gürtel reichte. Sein Gesicht, braun und mit Runzeln bedeckt, sah sehr weise, sehr häßlich und sehr gütig aus. Seine Stimme war ernst, aber seine Augen waren lustig, so daß es – solange man ihn nicht wirklich gut kannte – schwer zu unterscheiden war, wann er Spaß machte und wann er es ernst meinte. Sein Name war Doktor Cornelius. Von all den Stunden, die Doktor Cornelius gab, mochte Kaspian Geschichte am liebsten. Bisher hatte er ja von der Geschichte Narnias nur das gewußt, was die Kinderfrau erzählt hatte. Nun erfuhr er zu seiner Überraschung, daß die Mitglieder der königlichen Familie Fremdlinge in diesem Lande waren. »Der Ahnherr Eurer Hoheit, Kaspian der Erste«, berichtete Doktor Cornelius, »besiegte als erster Narnia und machte es zu seinem Königreich. Er war es, der Euer Volk in dieses Land führte. Ihr seid keineswegs geborene Narnianen; ihr seid Telmarer, das heißt, ihr alle stammt aus dem Land Telmar weit hinter den Westlichen Bergen. Darum wurde Kaspian der Erste auch Kaspian der Eroberer genannt.«

»Bitte, Herr Doktor«, fragte Kaspian eines Tages, »wer lebte in Narnia, bevor wir aus Telmar kamen?«

»Bevor die Telmarer Narnia besetzten, lebten hier keine oder nur wenige Menschen«, antwortete Doktor Cornelius. »Wem besiegten denn dann meine Ururahnen?«

»Wen nicht Wem, Euer Hoheit«, sagte Doktor Cornelius. »Es scheint mir an der Zeit zu sein, von Geschichte zu Grammatik überzugehen.«

»Oh, bitte, jetzt noch nicht«, bat Kaspian. »Ich meine, fand denn keine Schlacht statt? Warum wird er Kaspian der Eroberer genannt, wenn hier gar niemand war, der gegen ihn kämpfte?« »Ich sagte, daß es in Narnia nur wenige Menschen gab«, antwortete der Doktor und blickte den kleinen Jungen durch seine großen Brillengläser sehr merkwürdig an. Für einen Augenblick war Kaspian verwirrt. Dann begann sein Herz schneller zu schlagen. »Wollen Sie sagen«, stieß er hervor, »es gab hier andere Wesen? Meinen Sie, daß es wie in den Geschichten war? Gab es denn...« »Schsch«, machte Doktor Cornelius und legte seinen Kopf an Kaspians Ohr. »Kein Wort weiter. Wißt Ihr nicht mehr, daß Eure Kinderfrau fortgeschickt wurde, weil sie Euch von Alt-Narnia erzählte? Der König mag das nicht. Wenn er merkt, daß ich Euch Geheimnisse erzähle, werdet Ihr verprügelt, und mir schlägt man den Kopf ab.« »Aber warum?« fragte Kaspian.

»Es ist höchste Zeit, daß wir uns der Grammatik zuwenden«, sagte Doktor Cornelius mit lauter Stimme. »Wollen Königliche Hoheit jetzt bitte den ›Garten der Grammatik‹ von Pulverulentus Siccus, genannt ›Die Laube der fröhlichen Worte und munteren Sätze‹, auf Seite vier aufschlagen...« Anschließend war die Zeit bis zum Mittagessen nur mit Haupt- und Zeitwörtern ausgefüllt, aber ich glaube kaum, daß Kaspian viel lernte. Er war sehr aufgeregt und zudem überzeugt, daß Doktor Cornelius nicht ohne Absicht so viel gesagt hatte. Früher oder später würde er gewiß noch mehr erzählen. Hierin wurde Kaspian nicht enttäuscht. Einige Tage später sagte sein Hauslehrer: »Heute nacht werde ich Euch eine Astronomiestunde geben, eine Stunde Sternenkunde. In tiefster Dunkelheit werden zwei edle Planeten – Tarva und Alambil – nur einen Grad voneinander entfernt auftauchen. Eine solche Konstellation – also eine solche Stellung der Sterne – hat sich seit zweihundert Jahren nicht ergeben, und Eure Hoheit wird sie in ihrem Leben nicht mehr zu sehen bekommen. Ihr solltet etwas früher als sonst zu Bett gehen. Wenn die Zeit der Konstellation naht, werde ich Euch wecken.« Dies hatte anscheinend mit Alt-Narnia, worüber Kaspian viel lieber mehr erfahren hätte, gar nichts zu tun. Es ist aber so ungewöhnlich, mitten in der Nacht aufstehen zu dürfen, daß er sich doch auch darüber ein wenig freute. Als er an diesem Abend zu Bett ging, glaubte er zuerst, nicht einschlafen zu können, aber er versank schnell in einen Dämmerzustand, und nur wenige Minuten schienen ihm vergangen zu sein, als er fühlte, wie ihn jemand sanft schüttelte. Er setzte sich hoch und sah in dem von Mondschein erfüllten Zimmer Doktor Cornelius an seinem Bett stehen. Sein Lehrer war eingehüllt in ein Gewand mit Kapuze, und er hielt eine kleine Lampe in der Hand. Sofort fiel Kaspian ein, was vor sich gehen sollte. Er stand auf und zog einige Kleidungsstücke an. Die Sommernacht war kälter, als er gedacht hatte, und so war er ganz froh, daß Doktor Cornelius ihn in ein Gewand wie das seine hüllte und ihm ein Paar weicher, warmer Galoschen für die Füße gab. Wenige Augenblicke später verließen Meister und Schüler den Raum, beide so vermummt, daß sie auf den dunklen Gängen kaum zu sehen waren, und beide auf so leisen Sohlen, daß man sie nicht hören konnte. Kaspian folgte dem Doktor durch viele Gänge und über zahlreiche Treppen, bis sie endlich durch eine kleine Tür in einem Türmchen auf die Bleidächer kamen. Auf der einen Seite hatten sie die Zinnen, auf der anderen das steile Dach; unter ihnen lagen schattig und schimmernd die Schloßgärten; über ihnen standen die Sterne und der Mond. Gleich danach stießen sie auf eine andere Tür, die in den großen Hauptturm des Schlosses führte. Doktor Cornelius schloß sie auf, und sie erkletterten die stark gewundene Treppe dieses Turmes. Kaspian wurde immer aufgeregter. Nie zuvor war ihm erlaubt worden, diese Treppe zu besteigen.