Sie war lang und steil, aber als die beiden auf das Dach des Turmes hinaustraten und Kaspian wieder zu Atem gekommen war, merkte er, daß sich die Mühe gelohnt hatte. Weit entfernt nach rechts konnte er, wenngleich ziemlich verschwommen, die Westlichen Berge erkennen. Zur Linken sah er den Großen Fluß glitzern, und alles war so ruhig, daß er das Geräusch des Wasserfalles am Biberdamm hören konnte, der mehr als tausend Meter entfernt war. Es war nicht schwer, die beiden Sterne herauszufinden, die sie suchten. Diese standen ziemlich niedrig am südlichen Himmel, fast so hell wie zwei kleine Monde und ganz dicht beieinander.
»Werden sie zusammenstoßen?« fragte Kaspian mit schreckerfüllter Stimme.
»O nein, teurer Prinz«, erwiderte der Doktor, und auch er sprach im Flüsterton. »Dazu beherrschen die Herren des oberen Himmels ihre Tanzschritte zu gut. Beachte sie wohl. Es ist günstig, daß sie zusammentreffen, und das bedeutet etwas sehr Gutes für das traurige Reich von Narnia. Tarva, der Herr des Sieges, grüßt Alambil, die Dame des Friedens. Sie kommen einander gerade jetzt am nächsten.« »Wie schade: dort verdeckt ein Baum die Sicht«, meinte Kaspian. »Wir würden vom westlichen Turm bestimmt besser sehen, wenn er auch nicht so hoch ist.«
Zwei Minuten lang sagte Doktor Cornelius nichts. Er stand ganz ruhig und richtete seinen Blick auf Tarva und Alambil. Dann holte er tief Atem und wandte sich an Kaspian. »Jetzt«, sprach er, »habt Ihr etwas gesehen, was noch kein lebender Mensch erblickt hat, noch je erblicken wird. Ihr habt recht. Wir würden es vielleicht von dem niedrigeren Turm noch besser erkennen. Aber ich brachte Euch auch aus einem anderen Grund gerade hierher.«
Kaspian sah fragend zu ihm auf.
»Der Vorteil dieses Turmes ist«, fuhr Doktor Cornelius fort, »daß wir sechs leere Räume und eine lange Treppe unter uns haben und daß die Tür am Fuß der Treppe zugeschlossen ist. Niemand kann uns belauschen.«
»Wollen Sie mir jetzt das sagen, was Sie neulich verschwiegen haben?« fragte Kaspian.
»Das will ich«, erwiderte der Doktor. »Aber, merkt wohl, wir beide dürfen uns über diese Dinge einzig und allein hier auf der äußersten Spitze des großen Turmes unterhalten.« »Ja, das verstehe ich«, antwortete Kaspian. »Aber, bitte, sprechen Sie jetzt endlich.«
»Hört zu«, sagte der Doktor. »Alles, was Ihr über Alt-Narnia gehört habt, ist wahr. Es ist kein Land der Menschen. Es ist das Land Aslans, das Land der lebenden Bäume und der sichtbaren Nymphen, der Faune und Satyre, der Zwerge und Riesen, der Götter und Zentauren und der Sprechenden Tiere. Gegen diese alle kämpfte der erste Kaspian. Ihr Telmarer habt die Tiere und die Bäume und die Brunnen zum Schweigen gebracht, habt die Zwerge und Faune vertrieben und versucht nun, alle Erinnerung daran auszulöschen. Der König hat verboten, daß darüber gesprochen wird.«
»Ach, hätten wir doch das nicht getan!« rief Kaspian aus. »Aber ich bin so glücklich, daß alles das wahr ist, auch wenn es nun vergangen ist.«
»Viele Eures Stammes denken im geheimen so«, sagte Doktor Cornelius.
»Aber, Herr Doktor«, fragte Kaspian, »warum sprechen Sie denn von meinem Stamm. Sie sind doch auch ein Telmarer.« »Bin ich das?« fragte der Doktor.
»Nun, jedenfalls sind Sie doch ein Mensch«, meinte Kaspian. »Bin ich das?« wiederholte der Doktor mit dröhnender Stimme und warf gleichzeitig seine Kapuze zurück, so daß Kaspian sein Gesicht klar im Mondlicht erkennen konnte. Ihm fielen blitzartig die Schuppen von den Augen, und er fühlte, er hätte die Wahrheit längst merken müssen. Warum war denn Doktor Cornelius so besonders klein und dick? Warum hatte er einen so langen Bart? Zwei Gedanken schossen durch Kaspians Kopf. Der eine war voll Schreckens: Er ist kein richtiger Mann; er ist überhaupt kein Mensch; er ist ein Zwerg, und er hat mich hier heraufgebracht, um mich zu töten. Der andere Gedanke indessen war voll reiner Freude: Es gibt also wirklich Zwerge, und ich, ich, habe einen gesehen. »So, habt Ihr es endlich erraten«, sagte Doktor Cornelius, »oder doch beinahe erraten. Ich bin kein reiner Zwerg, sondern trage auch menschliches Blut in mir. Manche Zwerge entkamen damals in den großen Schlachten und blieben am Leben. Sie nahmen sich die Barte ab, trugen Schuhe mit hohen Absätzen und gaben vor, Menschen zu sein. Sie mischten sich mit euch Telmarern. Ich bin einer von ihnen, nur ein Mischzwerg, und wenn von meiner Verwandtschaft, den richtigen Zwergen, noch irgendwo in der Welt einer leben sollte, würde er mich zweifellos verachten und einen Verräter nennen. Und doch haben wir in all diesen Jahren unser eigenes Volk und all die anderen glücklichen Geschöpfe von Narnia sowenig wie die lang verlorenen Tage der Freiheit jemals vergessen.« »Das ist – das tut mir so leid, Herr Doktor«, stammelte Kaspian. »Aber, nicht wahr, Sie wissen doch, es ist nicht meine Schuld!« »Ich sage dies alles nicht, um Euch zu tadeln, teurer Prinz«, antwortete der Doktor. »Ihr mögt wohl fragen, warum ich es überhaupt sage. Aus zwei Gründen. Mein altes Herz hat diese geheimen Erinnerungen so lange bei sich bewahrt, daß es jetzt schmerzt und brechen würde, wenn ich sie Euch nicht zuflüstern könnte. Zum anderen: Vielleicht könnt Ihr, wenn Ihr einmal König werdet, uns helfen. Ich weiß, Ihr liebt alles, was mit der alten Zeit zusammenhängt, obwohl Ihr ein Telmarer seid.« »Das tue ich wahrhaftig«, beteuerte Kaspian. »Aber wie kann ich helfen?«
»Ihr könnt zu den armseligen Überbleibseln der Zwerge, wie ich einer bin, freundlich sein. Ihr könnt geübte Zauberer suchen lassen, um einen Weg zu finden, die Bäume wieder zu erwecken. Ihr könnt alle versteckten Winkel und unwegsamen Plätze des Landes durchsuchen lassen, um zu erforschen, ob dort noch Faune, Sprechende Tiere oder Zwerge im Verborgenen leben.« »Ob es wohl noch welche gibt?« fragte Kaspian eifrig. »Das weiß ich nicht – das weiß ich wirklich nicht«, seufzte der Doktor tief. »Manchmal fürchte ich, daß sie ausgestorben sind. Mein Leben lang habe ich vergeblich nach Spuren gesucht. Manchmal glaubte ich, die Zwergentrommel in den Bergen zu hören. Manchmal glaubte ich, nachts in den Wäldern einen Blick auf die in weiter Ferne tanzenden Faune und Satyre zu erhaschen. Oft bin ich verzweifelt, aber irgend etwas flößt mir immer wieder Hoffnung ein. Ich weiß nicht, was es ist. Aber wenigstens könnt Ihr versuchen, ein solcher Herrscher wie König Peter der Prächtige in den alten Zeiten – und nicht wie Euer Onkel – zu werden.«
»Dann ist das von den Königen und Königinnen und von der Weißen Hexe also wahr?«
»Gewißlich ist das wahr«, antwortete Cornelius. »Die Herrschaft jener Könige war das Goldene Zeitalter von Narnia, und das Land hat sie niemals vergessen.« »Lebten sie in diesem Schloß, Herr Doktor?« »Nein, mein teurer Prinz«, antwortete der alte Mann. »Dieses Schloß ist nicht sehr alt. Euer Ururgroßvater erbaute es. Die beiden Adamssöhne und die beiden Evastöchter lebten in dem Schloß Feeneden, als sie von Aslan zu Königen und Königinnen von Narnia gemacht waren. Kein lebender Mensch hat je jenen gesegneten Platz gesehen, und vielleicht sind jetzt sogar seine Ruinen dahingeschwunden. Man nimmt an, das Schloß hat weit von hier entfernt, an der Mündung des Großen Flusses in das Meer, gelegen.« »Oje«, bemerkte Kaspian schaudernd. »Meinen Sie in den schwarzen Wäldern? Wo alle die, die – nun Sie wissen ja –, die Geister leben?«
»Eure Hoheit spricht, wie man es Euch gelehrt hat«, antwortete der Lektor. »Aber das sind alles Lügen. Es gibt dort keine Geister. Das ist eine von den Telmarern erfundene Geschichte. Eure Könige haben eine Todesangst vor dem Meer, weil sie nicht vergessen können, daß in allen Erzählungen Aslan immer über das Meer kommt. Sie mögen also weder selbst ans Wasser gehen, noch wollen sie dulden, daß andere sich dorthin begeben. Um ihr Volk von der Küste abzuschneiden, haben sie große Waldungen anlegen lassen. Da sie aber mit den Bäumen in Feindschaft leben, haben sie nun auch Angst vor den Wäldern, und weil sie sich vor den Wäldern fürchten, nehmen sie an, diese seien voll von Geistern. Teilweise glauben die Könige und die leitenden Männer, die das Meer wie auch den Wald hassen, selbst an diese Märchen; jedenfalls aber sorgen sie dafür, daß sie verbreitet werden. Sie fühlen sich sicherer, wenn kein Mensch aus Narnia sich der Küste nähert und über das Meer blickt – gen Aslans Land und nach Osten.«