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Als er oben auf dem Hügel angekommen war, blieb Schiannath stehen und starrte verwundert auf die Schar von Pferden und Reitern, die sich aus dem Tal näherte. Während er noch zögerte, weil er nicht wußte, ob er bleiben oder weglaufen sollte, hörte er eine klare Stimme seinen Namen rufen; eine geliebte Stimme, von der er geglaubt hatte, er würde sie nie wieder hören. »Iscalda!« rief er und vergaß in seiner Freude ganz, daß er immer noch seine Pferdegestalt trug. Das Wort kam als langgestrecktes, hohes Wiehern über seine Lippen, und Schiannath verwandelte sich schnell wieder in Menschengestalt, während seine Schwester den Hügel hinauf auf ihn zugelaufen kam.

Es war zuviel, um es alles auf einmal zu begreifen. Schiannath, der nicht länger ein Gesetzloser war, blickte ungläubig von einem Gesicht zum anderen, während das Windauge begann, ihm von den Veränderungen zu erzählen, die die Xandim seit seiner Verbannung erlebt hatten. Iscalda, die sich eng an ihn schmiegte, konnte ein breites Grinsen angesichts der Verwunderung ihres Bruders nicht unterdrücken.

Plötzlich bahnte sich ein fast kahler, o-beiniger kleiner Mann seinen Weg durch die Menge. »Wo ist Aurian?« fragte er scharf. Seine Worte waren, obwohl sie eindeutig in einer fremden Sprache gesprochen wurden, irgendwie doch verständlich, und Schiannath begriff, daß das Windauge einen Zauber benutzte, um die fremde Rede zu übersetzen.

»Aurian?« ächzte Schiannath. »Aber wie …«

Der Fremde sah ihn mit finsterem Gesicht an. »Wer sonst?« blaffte er. »Wir können später unsere Zeit mit Höflichkeiten verschwenden. Jetzt zeig uns erst einmal den Weg zu dem Turm, den deine Schwester erwähnt hat.« Dann drehte er sich auf dem Absatz um und sprang mit einer einzigen, flüssigen Bewegung auf den Rücken des großen, schwarzen Hengstes, der Phalias in Pferdegestalt war.

»Also, was hältst du von unserem neuen Rudelfürsten?« flüsterte Chiamh Schiannath kichernd ins Ohr.

Dieser drehte sich um und starrte das Windauge fassungslos an. »Das ist der neue Rudelfürst? Er hat Phalias besiegt? Beim Lichte der Göttin! Wie hat er das gemacht?«

Chiamh zuckte mit den Schultern. »Wir leben in seltsamen und gewaltigen Zeiten, mein Freund – und du kannst froh sein, daß es so ist. Zumindest seid ihr beide, du und Iscalda, dank der Gnade Parrics keine Verbannten mehr.«

»Wollt ihr beide da rumstehen und das ganze verdammte Jahr nur reden?« brüllte der neue Rudelfürst. Mit einem Anflug von Schuldbewußtsein erinnerte Schiannath sich an Aurian, die im Augenblick auf Gedeih und Verderb der Gnade der Wölfe ausgeliefert war. Also verschwendete er keine Zeit mehr, sondern verwandelte sich in ein großes, dunkelgraues Pferd. Er wartete nur solange, bis Iscalda auf seinen Rücken gesprungen war, bevor er in gestrecktem Galopp auf den Paß zulief.

Aurian erwachte. Eine seltsame, bittere Dunkelheit umschloß ihren Verstand wie die Fetzen eines Alptraums, an den man sich nicht mehr recht erinnern konnte. Sie wollte sich jedoch auch nicht erinnern. Ihr Geist war leer und registrierte nur die einfachen, augenblicklichen Botschaften ihrer Sinne: den dumpfen, modrigen Geruch des Turmzimmers, die groben Mauern aus grauem Stein, die schwarzen Rußflecken über den Konsolen, in denen die Fackeln mit unruhigen, rauchigen Flammen brannten, die ersterbenden Kohlen im Kamin, die wie pulsierende Rubine aussahen. Schließlich empfand sie Schmerz, Unbehagen und den drängenden Wunsch, sich zu erleichtern.

Die Magusch kämpfte sich durch den Raum hindurch zu dem zugigen Abflußloch in der Ecke. Aber denken wollte sie nicht, auf keinen Fall – noch nicht. Wenn sie nachzudenken begann, würde sie wahnsinnig werden …

Sich an der Wand abstützend, schlurfte Aurian mühsam zum Feuer hin, wo eine Schale mit Wasser von der letzten Glut warmgehalten wurde und Tücher bereitlagen, mit denen sie sich säubern konnte. Sorgfältig heilte Aurian den Schaden, den ihr Körper genommen hatte, und konzentrierte sich angestrengt auf ihre Aufgabe. Es war schwierig. Sie war immer noch sehr schwach, und die Anstrengung, die ihre eigene Heilung sie kostete, hatte zur Folge, daß sie am ganzen Leibe zitterte.

Plötzlich begriff die Magusch, daß ihre Kräfte zurückgekehrt waren. Mit einem lauten Triumphschrei sprang sie auf, ignorierte ihre zitternden Gliedmaßen und schleuderte einen Feuerstrahl an die Decke, der zu einem lebendigen Funkenhagel explodierte. Oh, diese unglaubliche, atemlose, herrliche Erleichterung! Lachend und weinend vor Freude, ließ sie ihrem Sternenhagel einen blauen Feuerball folgen, dann noch einen in Rot und einen grünen. Wie damals, als sie noch ein Kind war, jonglierte sie übermütig mit Kugeln aus strahlendem Licht.

Nur die Erschöpfung bereitete ihrer jubilierenden Ausgelassenheit schließlich ein Ende. Aurian sank auf dem abgekühlten Kamin auf die Knie, und erst jetzt fragte sie sich, wo die anderen waren. Sorgen überschatteten plötzlich ihren Triumph. Gleichgültig, ob die Wachen ihren Kampf verloren oder gewonnen hatten, mußte doch Nereni eigentlich bei ihr sein. Und wer hatte den Leichnam des Prinzen weggeschafft und ihre Kammer von seinem Blut gesäubert? Sobald sie wieder zu Atem gekommen war, würde sie diesen Fragen auf den Grund gehen …

Aus dem Nest von Decken und Umhängen, in denen sie geschlafen hatte, erklang ein gedämpftes Wimmern. Aurian erstarrte angewidert, und die Hand, die so fröhlich mit ihrer Magie gespielt hatte, krampfte sich zur Faust zusammen. O ihr Geister! Es war also kein Alptraum gewesen: das hatte sie von Anfang an gewußt. Aber sich diesem Wissen jetzt stellen zu müssen, so bald schon …

Da war es wieder – dieses jämmerliche Wimmern eines Tieres in Not. Dieses Geräusch, das zu drängend war, um ignoriert zu werden, bohrte sich wie ein Messer in ihr Herz. Die Magusch wappnete sich gegen das, was kommen würde, ging langsam zu dem notdürftig bereiteten Bett hinüber und blickte hinab auf ihren Sohn. Der Atem stockte ihr in der Kehle.

Er war winzig, mitleiderregend und vollkommen durchnäßt; seine Augen fest verschlossen wie bei allen neugeborenen Wolfsjungen, sein Körper mit dunkelgrauem, zotteligen Pelz bedeckt. Mit schwachen Gliedern drehte er sich blind im Kreis, wimmerte und suchte nach der verlorenen Wärme von Aurians Körper. Die Magusch, die automatisch auf seine Hilflosigkeit reagierte, streckte die Hand nach dem Wolfsjungen aus … Sie schwebte zitternd über seinem Körper. Sie konnte ihn nicht berühren; sie konnte es einfach nicht. Zorn durchströmte sie: Wut, Trauer und graue Verzweiflung. War es das, was sie in langen Monaten des Kampfes und der Entbehrungen unter dem Herzen getragen hatte? War es das, wofür sie ihre Kräfte verloren hatte, als sie sie so dringend gebraucht hätte? War dieses blinde, wimmernde Stückchen Pelz das einzige Vermächtnis der Liebe, die sie und Forral geteilt hatten? Es war einfach zuviel für sie. Würgend, zitternd und unglücklich bis in die Tiefen ihrer Seele hinein, wandte Aurian sich ab …

Und zum ersten Mal, seit ihr Sohn die sichere Zuflucht ihres Leibes verlassen hatte, spürte sie die helle, zaghafte Berührung des kindlichen Geistes. Ihm war kalt, und er war einsam, blind und hungrig – und menschlich. Menschlich! Aurian hatte seit ihrer Kindheit Wölfe gekannt, und das hier waren keine Wolfsgedanken, überhaupt keine Tiergedanken. Sein Körper mochte ein Wolfsjunges sein, aber sein Geist war der Geist ihres Sohnes.

»Mein Baby!« Aurians Stimme brach bei diesen Worten, mit denen sie den Wolfling hochhob, um ihn mit ihrem Körper zu wärmen. Heiße Tränen der Erleichterung überfluteten ihr Gesicht. Seine Freude, die Freude ihres Kindes, daß es endlich seine Mutter wiedergefunden hatte, strömte durch sie hindurch.