Выбрать главу

Chiamh erzählte ihr von seiner Andersicht und von der Vision, die ihm in jener stürmischen Nacht vor so langer Zeit zuteil geworden war. Parric konnte sehen, daß Aurian von der kurzen Zusammenfassung, mit der das Windauge ihr seine Kräfte beschrieb, fasziniert war. »Ich muß unbedingt mehr darüber erfahren«, sagte sie. »Ja, wir haben einander überhaupt so viel zu erzählen … Aber zuerst möchte ich noch einmal versuchen, Kontakt zu Anvar aufzunehmen.« Sie biß sich auf die Lippen. »Ich mache mir Sorgen, Parric. Ich dachte, ich würde ihn erreichen können, sobald meine Kräfte wieder zurückgekehrt sind, aber bisher ist es mir nicht gelungen. Wenn ihr unten warten wollt, werde ich mich in einer Weile zu euch gesellen.«

»Herrin?« Chiamh hielt die Magusch am Arm fest. »Kann ich dir vielleicht helfen? Meine Andersicht reicht viele Meilen weit.«

Aurian lächelte ihn dankbar an. »Ja, vielen Dank, Chiamh. Im Augenblick ist es mir so wichtig, Anvar zu finden, daß ich jede Hilfe annehme, die ich bekommen kann.«

Als Aurian und Chiamh durch die Falltür hinauf auf das Dach des Turms kletterten, zerrte der Wind unruhig an ihren Gewändern. Der düstere Himmel im Osten zeigte langsam das bleiche Glitzern der Morgendämmerung, und die Magusch spürte in der Luft einen Hauch von Feuchtigkeit, der neuerliche Schneefälle ankündigte. Als sie um den Schornstein herumgingen, hörte Aurian zu ihrer Verwirrung ein schwaches Stöhnen und sah die Gestalt eines geflügelten Mannes, der in einem glitzernden, dunklen Fleck lag, der aussah wie sein eigenes Blut.

»Geflügelte!« zischte Chiamh. Aurian hörte das Scharren von Stahl, als der Xandim sein Messer zog.

»Nein, warte!« Sie legte ihre Hand auf die des Windauges. »Wir brauchen ihn vielleicht, um eine Nachricht nach Aerillia zu bringen.« Mit diesen Worten ließ sie sich neben dem Himmelsmann auf die Knie nieder und versuchte, mit ihrem Heilerinnensinn festzustellen, welches Ausmaß seine Verletzungen hatten. Es war jedoch nicht so schlimm, wie sie befürchtet hatte. Die Schwertschnitte, aus denen er Blut verloren hatte, waren nicht lebensgefährlich, obwohl er einen sehr harten Schlag auf den Hinterkopf bekommen hatte, der ihm beinahe das Bewußtsein raubte. Schnell riß Aurian mehrere Streifen von dem Saum der Decke ab, die sie als Mantel benutzte, um den Geflügelten an Händen, Füßen und Hügeln zu fesseln, bevor sie sich daranmachte, ihn zu heilen.

Nachdem sie sich um die Wunden des geflügelten Mannes gekümmert hatte, trat die Magusch mit Chiamh an die Brüstung und blickte hinüber zu den Bergen, nach Nordwesten, dort, wo der Himmel am dunkelsten war. Eine Weile versuchte sie mit aller Kraft, ihren Willen über die vielen Meilen hinweg nach Aerillia zu schicken, wo sie wieder und wieder nach Anvar und Shia rief. Dann versuchte sie mit aller Macht, eine Antwort zu erlauschen, aber es geschah nichts. Unglücklich drehte sie sich wieder zu Chiamh um, der die ganze Zeit über geduldig neben ihr gestanden hatte. »Ich höre überhaupt nichts«, flüsterte sie. »Vielleicht ist die Entfernung einfach zu groß für eine Gedankenübertragung. Aber, Chiamh, ich glaube, daß irgend etwas ganz Schreckliches vor sich geht.«

Eine graue, formlose Leere, eingehüllt in geisterhaften, klebrigen Nebel – Anvar zögerte und wußte einen Augenblick lang nicht weiter. Hinter sich hörte er noch die beruhigende Stimme Hellorins. »Mach drei Schritte nach vorn, Anvar, und blick nicht zurück! Du wirst entdecken, daß der Weg sich vor deinen Augen bilden wird.«

Anvar schauderte bei dem Gedanken, hinauszutreten in dieses formlose Nichts, aber … Der Waldfürst mußte schließlich wissen, was er tat. Er hatte diesen Pfad in dem Ort Zwischen den Welten‹ geöffnet, wobei er das Gewebe der Wirklichkeit mit ausgestreckter Hand durchtrennt hatte, um diesen unheimlichen Eingang zu schaffen.

»Fasse Mut, junger Magusch. Dieser Weg ist sicherer als der, den du mit der Moldan gegangen bist – was zugegebenermaßen nicht viel heißen will.« Der etwas klägliche Humor in den Worten des Waldfürsten gab Anvar neuen Mut. Außerdem, so rief der Magusch sich in Erinnerung, war dies seine einzige Möglichkeit, in seine eigenen Welt zurückzukehren – und zu Aurian. Er hatte sich bereits von Eilin und Hellorin verabschiedet, so daß es keinen Grund mehr gab zu zögern. Anvar schluckte und trat hinaus in die grauen Nebel. Das Glitzern des warmen Lichtes in den Gemächern des Waldfürsten war wie ausgelöscht, als die Pforte Zwischen den Welten sich hinter ihm schloß und jede Hoffnung auf Rückkehr zerstörte.

Irgendwie faßte Anvar dann jedoch neuen Mut und brachte seine rasenden Gedanken unter Kontrolle. Drei Schritte hatte der Waldfürst gesagt? Nun, so sei es. Der Boden, wenn man es überhaupt Boden nennen konnte – es war gewiß keine Erde –, war weich und federte unter seinen Füßen. Anvar machte seinen ersten Schritt, dann den zweiten …

Beim dritten Schritt verschwand der graue Nebel. Der ungewisse Boden unter seinen Füßen nahm die beruhigende Festigkeit von Stein an. Anvar hob überrascht eine Hand an sein Gesicht und sah seine Finger, wie er sie schon einmal gesehen hatte, umkränzt von einem geisterhaften, blauen Schimmer Maguschlicht, als hätte seine Magie eine eigene, körperliche Gestalt angenommen, um sein irdisches Fleisch zu umhüllen. Eine flüchtige Erinnerung schoß ihm durch den Sinn – die Vision einer geschnitzten, grauen Tür – und war dann wieder verschwunden. Grimmig konzentrierte sich Anvar auf die Aufgabe, die vor ihm lag, und hob seine leuchtende Hand, um seine Umgebung zu erhellen.

Er befand sich in einem Tunneclass="underline" in einem schmalen Korridor, der grob aus einem glitzernden, schwarzen Gestein gehauen war. Zu seinem Erstaunen waren seine Wände von Anfang bis Ende, etwa in Augenhöhe, mit seltsamen, nicht zu entziffernden Runen und eckigen Bildern bedeckt. Anvar, der sich langsam durch den Tunnel fortbewegte, stöhnte. Dort, deutlich sichtbar in dem Funkeln seines Maguschlichtes, war die ganze Geschichte der Verheerung niedergeschrieben!

Staunend folgte der Magusch der Geschichte bis an ihr Ende, wo Avithan, einst der Sohn des Ersten Zauberers, heute Vater der Götter genannt, seine Gefolgsleute, die sechs überlebenden Zauberer, zu der Zuflucht Zwischen den Welten geführt hatte, zu dem Zeitlosen See. Und im letzten Bild …

Diese Zeichnung unterschied sich in ihrem Stil von allen anderen. Sie zeigte ein Gesicht, ein weibliches Gesicht, umgeben von einer leuchtenden Mähne, die so raffiniert geschnitzt war, daß sie Anvars Maguschlicht auffing und ein frostiges Glitzern zurückwarf. Das Gesicht, raubvogelartig und mit hohen Wangenknochen, erinnerte den Magusch an Aurian, aber es war irgendwie älter und anders, auf eine Weise, die er nicht einordnen konnte. Die großen, wilden, runden Augen waren nicht die Augen eines Menschen, sondern die eines Adlers. Sie schienen Anvars Blick zu halten, ein Blick, der sich tief in seinen Geist hineinbohrte und seine innersten Gedanken enthüllte …

Der Magusch hatte keine Ahnung, wie lange er dort gestanden hatte, wie gebannt und vollkommen verzaubert. Endlich blickte er auf, um vor sich ein anderes Licht zu sehen, eingerahmt von einem gähnenden Maul schwärzesten Steins, vor einem Himmel von tiefstem Indigoblau, besprenkelt mit hellen Sternen. Mit einem Seufzer der Erleichterung wandte Anvar sich von der beunruhigenden Schnitzerei ab und hastete weiter.

Eine weitere Erinnerung, kurz und flüchtig, flackerte durch Anvars Gedanken. Die schwarzen, gewölbten Hügel, die vor einem mit Sternen übersäten Himmel dicht an dicht aneinanderstanden … Aber diesmal waren es Berge, ein friedliches Tal, das zu beiden Seiten mit duftenden Kiefern und Farnen bewachsen war und wie ein Juwel von einem ruhigen, von Sternen beleuchteten See umrahmt wurde.

Als er den Tunneleingang erreicht hatte, überfiel Anvar plötzlich das Gefühl einer Vorahnung. Vorsichtig kroch er aus dem Tunnel heraus, sah sich um und lauschte, bevor er auf einen schmalen Strand hinaustrat, der ganz mit glatten, runden Steinen, die etwa die Größe einer geballten Faust hatten, übersät war und zum Wasser hin in einen Kiesstrand überging. Es war kein Laut zu hören bis auf das murmelnde Plätschern der Wellen und das rhythmische Aneinanderschlagen der vom Wasser umspülten Kieselsteine.