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Zuerst fühlte der Magusch sich auf dem Strand den Gewalten gegenüber, die überall auf ihn lauern konnten, erschreckend schutzlos, aber als die friedliche Stille dieses Ortes allmählich in seine Seele drang, wurde es ihm langsam leichter ums Herz, und er verspürte eine ruhige Gelassenheit und ein Gefühl der Sicherheit. Der dunkle See schien ihn anzuziehen, schien all den Schmerz und die Angst, die während der letzten Monate seine stetigen Begleiter gewesen waren, fortzuspülen und durch ein wunderbares Gefühl von Wärme und Freundlichkeit zu ersetzen.

Anvar ging hinunter zum See und blickte auf das stille, dunkle Wasser. Einen Augenblick lang durchzuckte ihn ein schwindelerregendes Gefühl der Orientierungslosigkeit. Er sah Sterne: in der Tiefe des Wassers nur endlose Sterne, als blicke er nicht hinunter, sondern hinauf und immer weiter hinauf in den unendlichen Nachthimmel. Einfach nur Sterne, die sich im See widerspiegelten – und doch …

Anvar brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, was in ihm vorging. Irgend etwas war falsch. Mit einem leisen Schrei blickte er zu dem Himmel auf und dann wieder hinunter auf den See. Schließlich zuckte er fluchend vor dem Wasser zurück, als sei es tödliches Gift. Die Sterne. Die Sterne waren falsch. Der Himmel, der sich in diesen unergründlichen Tiefen widerspiegelte, war nicht der klare Nachthimmel über ihm!

Plötzlich kam Wind auf. Ein Büschel Schilfgras am Rand des Wassers begann zu rauschen und zu wispern und mit wildem Gelächter zu zischen. Die Sterne, die sich im See widerspiegelten, verloren sich, als sich die Oberfläche des Wassers plötzlich kräuselte. Kleine Wellen, die immer größer wurden, stürmten wie Kavalleriesoldaten gegen den Strand, mit weißen, im Wind wehenden Mähnen auf ihren Kronen. Anvar, der immer noch langsam Schritt um Schritt zurücktrat, drehte sich um und rannte auf den sicheren Schutz des Tunnels zu – nur um an einer glatten, schwarzen Steinwand abzuprallen.

Ein knirschendes Rumoren, das sich zu einem donnernden Getöse steigerte, veranlaßte den Magusch, sich wieder zu dem See umzudrehen. Das Wasser in seiner Mitte schien zu kochen; es schäumte auf und erhob sich zu einem funkelnden und wirbelnden Berg. Ein großer, schwarzer Reißzahn durchbrach die gequälte Oberfläche und schleuderte die Wellen mit einer gewaltigen, weißen Schaumblüte zur Seite. Riesige Bögen aus winzigsten Tröpfchen blitzten himmelwärts, streckten sich mit silbernen Fingern nach den Sternen aus, bevor sie ihre Kraft erschöpft hatten und wieder in den See hinunterstürzten.

Aus dem vom Wind umtosten Wasser des Weihers erhob sich plötzlich eine Insel; ein hoch aufragender, schwarzer Felsen wie ein verfaulter, scharfzackiger Zahn. Seewasser, zu lebendigem Weiß aufgeschäumt, rann von seinen sich erhebenden Flanken herab.

Anvar, der sich mit dem Rücken gegen den steilen Felsen hinter sich preßte, schrak zurück, als gewaltige Wellen über den Strand auf ihn zurasten. Seine alte Furcht vor dem Wasser, vor dem Ertrinken, hätte ihn um ein Haar um den Verstand gebracht – bis ihm nach einem Augenblick entsetzlicher Furcht klar wurde, daß die Wellen zwar seine Füße umspülten und daß Gischt um seinen Kopf herumzischte, daß seine Haut und seine Kleider jedoch immer noch trocken waren, als befände sich zwischen ihm und dem Wasser eine unsichtbare Barriere, die das Wasser nicht zu durchbrechen wagte. Die Wellen hielten ein kleines Stück vor ihm inne – wie Straßenköter, die auf ihn zurasten, um sich in seinen Stiefeln festzubeißen, dann aber im letzten Augenblick nicht den Mut dazu fanden. Sollte das eine Warnung sein? Mit zusammengebissenen Zähnen rief der Magusch sich ins Gedächtnis, warum er hierhergekommen war. Nur die Cailleach, die Herrin der Nebel, konnte ihn zurück in seine eigene Welt schicken. Nur durch ihre Gnade konnte er die Windharfe gewinnen. All das konnte ihm nur gelingen, indem er eine Begegnung mit ihr herbeiführte – und nun, so schien es, hatte er ihre Aufmerksamkeit errungen.

Das war ja alles gut und schön … Zumindest versuchte Anvar sich das einzureden. Aber die Herrin der Nebel war einer der Wächter: weit über jenen, die die Maguschlegenden als Götter bezeichneten. Ihre Macht überstieg selbst die Hellorins, denn die Phaerie verfügten lediglich über die Macht der Alten Magie. Die Cailleach war eine solche Macht in Person, fleischgewordene Macht – und sie besaß außerdem noch die Wilde Magie, die gefährlichste von allen.

Mittlerweile war die Insel vollends aufgetaucht, und das Wasser begann sich zu beruhigen. Dann tauchte auch Anvars Kiesstreifen wieder auf, nur daß er sich inzwischen verändert hatte. Das Tal wurde ebenfalls wieder still, aber ohne sein früheres Gefühl von Frieden. Jetzt war die Atmosphäre angespannt und voll brütender Erwartung.

Anvar wartete … und wartete, bis er die Spannung nicht länger ertragen konnte. Es schien, als müßten Zeit und Wirklichkeit zerbrechen, als schwirrten sie wie eine straff gespannte Sehne. Dann erinnerte der Magusch sich daran, wie Aurian den Stab der Erde gewonnen hatte und was sie ihm von ihrer Begegnung mit dem Drachen erzählt hatte. Nichts war geschehen, bis sie selbst die Initiative ergriffen und den Bann gebrochen hatte, der den goldenen Feuermagusch aus der Zeit genommen hatte …

Anvar holte tief Luft. Es war offensichtlich, daß die Cailleach sich seiner Gegenwart bewußt war. Der nächste Schritt mußte dann also bei ihm liegen. »Herrin, ich bin hier!« rief er. »Im Namen der alten Magusch, der Zauberer, die du einst beschützt hast, grüße ich dich!«

Er bekam keine Antwort – zumindest nicht in einer menschlichen Sprache. Statt dessen wehte, gerade als Anvar sich zu fragen begann, was er als nächstes tun sollte, ein Klang von hauchzarter Musik über den See zu ihm herüber. Die fremde Musik war so wild, so ätherisch, so herzzerreißend schön, daß der Magusch spürte, wie seine Kehle sich zusammenschnürte. Tränen strömten über sein Gesicht, und ohne zu wissen, was er tat, wischte er sie sich mit einer unbewußten Nachahmung von Aurians kindlicher Geste mit dem Ärmel ab.

Es war die Musik einer Harfe. Während jede Note klar und vollkommen über das dunkle Wasser glitt, wurde sie für Anvar sichtbar; ein Wasserfall aus Musik, wie ein Sternschnuppenregen, und jede kristallene Note ein klarer und vollkommener Punkt aus Licht. Der Magusch sah verloren in tiefem Staunen zu, wie sich plötzlich eine Brücke aus Gesang über den stillen Tempel wölbte.

Als die letzten zauberhaften Takte erklangen, fiel eine weitere Schar von Sternen auf den steinernen Strand nieder, berührte den Boden und blieb dort liegen. Der Magusch holte tief Luft, schloß seine Finger fest um den Erdenstab und trat auf die Brücke aus Sternen.

24

Die Herrin der Nebel

Das Windauge klopfte Aurian unbeholfen auf die Schulter, und sie war ihm dankbar für diese Geste des Verständnisses. »Du sagtest, dein Begleiter, die andere helle Macht, sei in Aerillia?« fragte er sie. Die Magusch nickte, und trotz ihrer Besorgnis konnte sie sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen angesichts seiner Beschreibung von Anvar. Sie hatte eine augenblickliche Zuneigung zu diesem rundgesichtigen, scheuen, jungen Seher mit dem freundlichen Lächeln gefaßt.

»Du hast vorhin gesagt, daß du mir vielleicht helfen könntest. Aber wie?« fragte sie.

»Ich werde meine Andersicht benutzen, um auf dem Wind nach Aerillia zu reiten«, sagte das Windauge zu ihr. »Dort sollte ich mit einigem Glück in der Lage sein, deinen Begleiter zu finden.«

Aurian sah voller Erstaunen zu, wie das Silber Chiamhs Augen überflutete. Er lehnte an der Brüstung und entspannte sich, während aller Ausdruck aus seinen Zügen wich, und die Magusch begriff, daß sein Bewußtsein seinen Körper verlassen hatte. Plötzlich hatte sie eine Idee. Sie atmete tief durch, entspannte ihren eigenen Körper und schlüpfte mühelos aus ihrer irdischen Gestalt.