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Chiamh schwebte immer noch über dem Turm: ein goldener Wirbel leuchtenden Lichts. Sie sah sein erstauntes Flackern, als er ihre Gegenwart spürte. »Kannst du mich hören?« fragte Aurian ihn. In ihrer körperlichen Gestalt hatte sie nicht daran gedacht, sich mit dem Windauge mittels Gedankenrede zu unterhalten, und einen Augenblick lang hatte sie doch gewisse Zweifel, was das Ausmaß seiner Fähigkeiten betraf.

»Ja, Herrin!« Seine Gedankenstimme klang klar und freudig. »Wie wunderschön du aussiehst: ein Wesen aus Licht, ganz so, wie ich dich das erste Mal in meiner Vision gesehen habe.«

In ihrer Furcht um Anvar hatte die Magusch wenig Zeit für Komplimente, wie nett sie auch sein mochten, aber sie konnte dem Seher nicht böse sein. »Ich habe mich gefragt, ob du – ob du mich wohl mitnehmen würdest, wenn du auf dem Wind nach Aerillia reitest?« erkundigte sie sich zaghaft.

»Wir können es ja versuchen.« Als strecke er seine Hand nach ihr aus, hielt Chiamh ihr einen glitzernden, leuchtenden Tentakel hin, und Aurian streckte ihrerseits einen ähnlichen Fühler aus ihrem eigenen Wesen aus, um ihn zu berühren. Die beiden trafen sich in einem Aufleuchten warmen Lichts, und plötzlich nahm die Magusch die Welt so wahr, wie Chiamh sie mit seiner Andersicht sah. Sie keuchte vor Erstaunen, als sie die Berge wie durchsichtige, glitzernde Prismen sah und die Winde wie lebendige Flüsse aus fließendem Silber.

»Bist du bereit?« Chiamhs Stimme hallte stolz durch ihre Gedanken, und Aurian wußte, daß er ihr Entzücken gespürt hatte.

»Ich bin bereit«, erwiderte sie.

»Dann halt dich gut fest!« Das Windauge streckte einen weiteren, leuchtenden Fühler aus und ergriff ein Band des silbrigen Windes. Im nächsten Augenblick ritten sie auch schon auf einem Strom aus Licht mit unglaublicher Geschwindigkeit über die Berge.

»Das ist einfach herrlich«, rief Aurian glückselig. Da sie, während sie einander berührten, ganz auf Chiamhs Gedanken eingestellt war, konnte sie auch seine Freude über den wilden, belebenden Ritt spüren.

»Ich habe gar nicht gewußt, daß es so sein kann«, erwiderte er. »Früher bin ich immer allein gereist, und es war einsam und manchmal erschreckend. Aber das hier … Herrin, was für ein Geschenk du mir gemacht hast! Ich werde mich nie wieder vor meiner eigenen Macht fürchten!«

Aurian war froh, daß sie ihm geholfen hatte, denn auch er hatte ihre Erfahrungen bereichert, indem er sie auf diese Reise mitgenommen hatte. Es war eins der unglaublichsten Gefühle in ihrem Leben, nur beeinträchtigt durch den Schatten der Sorge um Anvar und Shia, der sich nie ganz aus ihren Gedanken verbannen ließ.

»Hier ist Aerillia«, sagte das Windauge endlich. Zu ihrem Erstaunen sah Aurian etwas, das wie eine Ansammlung leuchtender Funken weit unter ihr lag, und dann erkannte sie voller Verblüffung, daß es sich dabei um die unzähligen Lebensenergien der Geflügelten handelte, die oben auf dem gewaltigen Gipfel lebten.

Als das Windauge weiter hinunterschwebte, strengte Aurian sich an, um die Stadt auf dem Gipfel besser sehen zu können. Jetzt war die unheimliche, prismatische Wirkung von Chiamhs gesteigerter Sicht ein entschiedener Nachteil. »Gibt es denn keine Möglichkeit, wie ich meine normale Sehweise zurückbekommen kann?« fragte sie ihn.

»Aber gewiß doch.« In Chiamhs Gedankenstimme schwang Bedauern darüber mit, daß ihre Reise nun zu Ende ging. »Du bist jetzt hier – zumindest dein inneres Selbst ist hier. Laß einfach los, und du wirst wieder normal sehen. Ich werde ganz in deiner Nähe bleiben, um dich zurückzubringen, wenn du gehen willst.«

Aurian dankte dem Windauge, zog den Lichttentakel, mit dem sie sich an ihm festgehalten hatte, zurück und trennte damit ihre Verbindung zu Chiamhs innerer Gestalt. Als sie nach unten sah, keuchte sie. Auf dem höchsten Gipfel des Berges lagen die Trümmer eines großen, schwarzen Gebäudes, und überall um die Ruine herum kreisten in Panik geratene Himmelsleute. Es sah ganz danach aus, als hätte Anvar den Stab zurückbekommen. Aber warum in aller Welt antwortete er ihr nicht?

Während ihre innere Gestalt sich dem Boden näherte, versuchte Aurian statt dessen, nach Shia zu rufen, und bekam endlich eine Antwort. »Wo, um alles in der Welt, bist du?« wollte die Magusch wissen. In ihrer Besorgnis klang sie ausgesprochen schroff. »Was ist passiert? Wo ist Anvar?«

»Ich verstecke mich«, erwiderte Shia grimmig, »zusammen mit Khanu, einem Kameraden meiner eigenen Rasse, der mitgekommen ist, um mir zu helfen. Wir sind in den Korridoren unter dem Tempel. Es ist niemand hier, der diesen geflügelten Ungeheuern erklären könnte, daß wir gekommen sind, um sie zu befreien …«

Kalte Furcht durchzuckte Aurian, als sie das Zögern in der Stimme der großen Katze hörte. »Warum kann Anvar es ihnen nicht erklären? Wo ist er?« Ihre Gedankenstimme war kaum mehr als ein Flüstern, das schließlich zu einem verängstigten Aufschrei anschwoll. »Wo ist Anvar? Er kann nicht tot sein. Das hätte ich gespürt!«

»Du hast recht.« Shias nüchterne Stimme trug sehr dazu bei, daß die zu Tode erschrockene Magusch sich wieder ein wenig beruhigte. »Ich hatte noch, während er Schwarzkralle verfolgte und den Tempel verließ, Kontakt zu ihm. Der Priester ist zu einem Turm geflohen, wo Anvar ihn getötet hat. Dann gab es plötzlich ein Erdbeben – kein natürliches Phänomen, da bin ich mir sicher …« Shias Stimme verriet ihre Verwirrung. »Als der Turm zusammenbrach, habe ich den Kontakt mit Anvars Gedanken verloren, aber es fühlte sich nicht so an wie der Tod. Es war einfach so wie damals in Dhiammara, als du dich in dieser magischen Falle verfangen hast und in den Berg hineingerissen wurdest. Es war, als sei er einfach verschwunden.«

»Bei den Göttern!« Aurian war wie betäubt. Was war aus Anvar geworden? War er in eine Falle geraten, die Miathan gestellt hatte, um ihnen den Stab zu stehlen? Aber der Erzmagusch konnte im Augenblick doch nichts tun, nachdem er durch den Tod des Prinzen so abrupt aus Harihns Körper vertrieben worden war. »Hör mir zu, Shia«, sagte sie. »Ich muß eine Möglichkeit finden, nach Aerillia zu kommen. Ich bin im Augenblick nicht in meinem Körper, aber …«

»Dann ist das Kind also da?« erkundigte Shia sich ängstlich.

»Ja, und wir sind jetzt alle frei. Harihn ist tot, aber das erzähle ich dir alles später. Ich werde eine Möglichkeit finden, dich so schnell ich nur kann zu erreichen.«

»Das hoffe ich sehr. Wir sitzen hier unten in der Falle, und es kann nicht mehr lange dauern, bis man uns entdeckt. Aurian, bevor du gehst …« Hastig erzählte Shia der Magusch, was Rabe widerfahren war. Es war eine schlimme Neuigkeit, aber die Magusch hatte zu viele andere Sorgen, um Mitleid für das Mädchen zu empfinden, das sie betrogen hatte. Trotzdem konnte ihr die Information durchaus nützlich sein. In Aurians Gedanken formten sich die ersten Grundlagen einer Idee.

»Ich muß jetzt gehen«, sagte sie eilig zu Shia. »Paß auf dich auf, meine Freundin, bis ich zurückkehre.« Mit diesen Worten suchte die Magusch nach Chiamh, um so schnell wie möglich wieder in ihren Körper zurückzukehren.

Das Wiedersehen, das im Turm stattfand, war stürmisch. Bohan stürzte auf Aurian zu, und Tränen strömten ihm über das Gesicht, während die Magusch versuchte, ihr Entsetzen über seinen furchtbaren Zustand und die Wunden, die seine gewaltigen Glieder entstellten, zu verbergen. Ihr Haß auf Harihn bekam neue Nahrung, und in dieser Stimmung fiel es ihr nicht weiter schwer, auch ohne Mitleid an Rabe zu denken.

Sie ließ Parric und Schiannath den geflügelten Gefangenen vom Dach herunterbringen, und während eine überaus widerwillige Nereni ihm Suppe und Liafa gab, damit er wieder zu Kräften kam, erzählte ihm die Magusch ohne Umschweife von Schwarzkralles Tod. Obwohl er bei dieser Nachricht erblaßte, glaubte Aurian, ein kurzes Auffunkeln von Erleichterung in seinen Augen zu entdecken, und hoffte, daß es dadurch leichter werden würde, sich seiner Mitarbeit zu versichern. Tatsächlich hatte sie schon seine Dankbarkeit gewonnen, indem sie die Wunden, die Schiannath ihm beigebracht hatte, geheilt hatte, und als sie ihm anbot, ihn frei nach Aerillia zurückkehren zu lassen, wenn er Rabe eine Nachricht überbrachte, war er nur allzugern bereit, ihre Bitte zu erfüllen.