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Nereni hatte eine Mahlzeit zubereitet, und während des Essens, das sie in dem engen Turmzimmer gemeinsam einnahmen, hatten die Kameraden endlich die Chance, einander zu erzählen, was ihnen in der langen Zeit ihrer Trennung widerfahren war. Aurian freute sich über ihr Wiedersehen mit ihren lange entbehrten Freunden, und ihre Freude steigerte sich noch, als sie das Sausen von Schwingen hörte, das die Rückkehr der Himmelsleute verhieß.

Die Brücke der singenden Sterne war ein funkelnder, zarter Regenbogen, der sich von der Küste bis zur Insel über die dunklen Wasser des Zeitlosen Sees erstreckte. Wie Anvar erwartet hatte, waren die Sterne unter seinen Füßen so hart wie Steine. Was er jedoch nicht erwartet hatte, war ihre Reaktion auf die Berührung durch seine Füße. Mit jedem Schritt, den Anvar auf die Brücke setzte, gaben die Sternensteine unirdische Klänge von sich. Jeder Schritt schlug einen anderen Akkord an, bis Anvar feststellte, daß er seine Schritte mit Bedacht wählte, hier und dort verschieden betonte; er schuf auf dieser magischen Brücke sein eigenes Lied: seine Seelenmelodie.

Je näher Anvar der Insel kam, um so tiefer empfand er die Gegenwart eines gewaltigen, mächtigen, nachdenklichen Wesens auf der anderen Seite. Je näher er kam, um so mehr nahm sein Selbstgesang feste Gestalt an und um so wacher schien das Wesen zu werden, das die Musik, die er schuf, hörte und billigte.

Die Brücke endete auf der Insel auf einem dunklen Steinsockel. Mit einem schmerzhaften Ruck mußte sich der Magusch von der Brücke aus Gesang losreißen. Augenblicklich verstummte die Musik. Die Stille wirkte wie ein Hammerschlag. Vor Anvars entsetzten Augen begann die Brücke zu schimmern und zu zittern, bis sie sich schließlich mit einem sanften Seufzen auflöste. Ein Sternenregen ging auf den See nieder, überzog seine Oberfläche mit Dunstschleiern und ließ nichts zurück als eine schmerzliche Leere in den Tiefen von Anvars Seele. Traurig wandte Anvar sich von der zerstörten Idylle ab und erblickte vor sich einen Pfad, der von dem Sockel nach oben führte und schließlich hinter einer Biegung verschwand. Der Magusch seufzte, stützte sich schwer auf den Stab der Erde und begann, den Pfad zu erklimmen. Der Weg, der in den zerklüfteten Felsen hineingeschnitten war, als wäre der Stein so weich wie Butter, schlängelte sich steil nach oben. Er schien endlos zu sein. Dem Magusch wurde schwindlig, und als er oben angekommen war, rang er keuchend nach Luft. Der Pfad endete abrupt vor einem letzten, steilen Turm – und dem schwarzen Eingang einer Höhle. Anvar spürte ein Kribbeln von Magie in seinen Fingern und hob die wieder von flackerndem, blauen Maguschlicht umhüllte Hand, um so seinen Weg in die Höhle hineinzufinden.

Es erwies sich von Vorteil, daß er das Licht hatte. Nachdem er ein paar Schritte ins Innere der Höhle gegangen war, endete sie abrupt vor einer undurchdringlichen Wand – und einem klaffenden Abgrund, der vor seinen Füßen tief in die Dunkelheit hinabstürzte. Mit wild hämmerndem Herzen kniete Anvar vorsichtig am Rand nieder. Das glänzende, blaue Licht ließ eine Wendeltreppe erkennen, die in den Felsen hineingehauen war und in das Herz der Insel hinunterführte.

»Ich kann es einfach nicht glauben!« explodierte Anvar mit einem Zorn, der es mit Aurians schlimmsten Wutanfällen aufnehmen konnte. Unter wilden Flüchen stieg er hinab, begleitet von düsteren, haßerfüllten Gedanken an den umnachteten Idioten, der nicht in der Lage gewesen war, einen direkten Weg, einen waagerechten Tunnel durch das Gestein auf dem Grund der Insel zu erschaffen.

Anvars Nörgeleien endeten abrupt, als ihm klar wurde, daß er sich überhaupt nicht mehr auf der Insel befand. Am Fuße der Treppe fand er sich plötzlich inmitten eines Waldes wieder. Es war ein vollkommener Wald – geschnitzt aus Stein. Der Magusch blieb mit offenem Munde stehen. Die Illusion war makellos. Jeder Ast, jeder Zweig, jedes zarte Jadeblatt war raffiniert und vollendet geschnitzt bis hin zu dem winzigsten Detail. Steinvögel hockten hier und dort, mit offenen Schnäbeln, als wären sie mitten in ihrem Gesang versteinert, und ihre Flügel waren halb geöffnet, als wollten sie gerade die Flucht ergreifen. Winzige Granitraupen schlängelten sich über die zarten Äste. Blüten aus durchscheinendem Quarz öffneten sich an den Zweigen, und ein kühles, silbriges Licht sickerte durch die Bäume, ein Licht, dessen Quelle durch das Spitzenwerk der Blätter verborgen blieb.

Die Stimme, die dann endlich ertönte, war weiblich und überaus ungewöhnlich: Nicht alt, nicht jung, gelang es ihr, beschwingt und melodisch zu klingen und doch zur gleichen Zeit auch tief, hart und krächzend.

»Willkommen im Wald, im Herzen des Steins – oder im Stein, im Herzen des Waldes. Wie immer du willst«, kicherte die unheimliche Stimme. »Komm, junger Zauberer, immer der Nase nach, denn an diesem Ort führen alle Wege zu mir.«

Das Gefühl von Macht in dieser Stille war überwältigend. Obwohl Anvars sämtliche Instinkte aufschrien und ihn zur Flucht drängten, wußte er, daß es doch kein Zurück gab. Mit einem kurzen Achselzucken ging er weiter, weiter und weiter, durch endlose Reihen von Bäumen hindurch.

Steinerne Stämme, steinerne Aste, Vögel und Insekten – alle waren deutlich und unheimlich in dem trügerisch flackernden Licht zu erkennen, das von irgendwo über dem Wald kam. Der Magusch war voller Ehrfurcht für die Größe dieses Ortes, als wäre er nur ein kleines Kind, das sich in die Säulenhalle eines großen Regenten verirrt hatte. Obwohl die Magie dieses zeitlosen Waldes ihm Hunger und Durst ersparte, wurden seine Beine langsam schwach, und seine Füße hämmerten in seinen Stiefeln. Anvar versuchte, diese Unbequemlichkeiten zu ignorieren. Er mußte wachsam bleiben und sich auf die kommende Begegnung vorbereiten.

Plötzlich hörte der Wald auf. Anvar taumelte hinaus in einen riesigen, offenen Raum – eine gewaltige Höhle vielleicht, obwohl es schwer war, den Ort genau zu beschreiben, denn er war so groß, daß seine Grenzen – falls er überhaupt Grenzen hatte – in weiter Ferne in der Dunkelheit untergingen. Der Boden war mit einer Art Moos überwuchert, das aus winzigen, kribbelnden Stacheln bestand. Es war so etwas wie ein kristallisiertes Mineral, das den ganzen sanft geschwungenen Hügel bedeckte, der sich vor ihm erhob. Auf dem Gipfel stand der gewaltigste Baum, den Anvar je gesehen hatte, sein Umfang war größer als der des riesigen Wetterdoms der Akademie, sein Stamm viel größer als der Maguschturm. So groß war er, daß er sich in der Dunkelheit hoch über Anvar verlor. Der Magusch hatte nun endlich auch die Quelle des verwirrenden, silbernen Lichts gefunden, das den Wald erhellte. Dem Baum war ein reiches Leuchten eigen, das aus seinem Innern kam, als sei er mit gefangenem Mondlicht erfüllt.

Die ungeheuren Ausmaße dieses alten Titanen überwältigten Anvars Sinne. Um seine Gedanken ein wenig zu ordnen, betrachtete er nur den unteren Teil des Baums und konzentrierte sich auf Einzelheiten. Stein oder Holz? Obwohl der Magusch ganz nah heranging, war es ihm unmöglich, das herauszufinden. Das Material des Baums war von der gleichen dumpfen, grauen Körnigkeit wie sie auch die geschnitzte Tür Zwischen den Welten aufwies, durch die er zum Brunnen der Seelen gelangt war.