Выбрать главу

»Gut beobachtet, o Zauberer! Das Portal des Brunnens der Seelen wurde tatsächlich aus einem Zweig dieses Baumes geschnitzt. Aber wie kommt es, daß du diesen gefährlichen Weg gegangen bist? Und warum bist du immer noch hier und kannst dich daran erinnern?«

Anvar, den die Stimme erschreckt hatte, blickte zu dem Baum hinauf. Und dort, etwa drei Manneshöhen vom Boden entfernt, wo es vorher nichts gegeben hatte als den glatten und ausdruckslosen Stamm, befand sich jetzt eine Tür, eine runde Tür, die einem Astloch im Holz ähnelte. Eine grobe Treppe, scheinbar ein natürlicher Teil des Baums und nicht künstlich angelegt, schien sich in gewaltige Höhen zu strecken. Die Treppe wurde nach oben hin breiter und bildete einen Treppenabsatz und eine Plattform vor dem Eingang.

Die Tür schwang langsam auf. Dort, eingehüllt in das schimmernde, goldene Licht, das aus dem Innern des Baums leuchtete, stand ein … Anvar blinzelte und rieb sich die Augen. Die Gestalt war ein Adler – nein, ein altes Weib … Nein. Es war die schönste Frau, die er je gesehen hatte. Die trügerische Gestalt war von Kopf bis Fuß in einen Umhang aus schwarzen Federn, einer weißen Kapuze und einem weißen Saum gehüllt. Eine Sekunde lang verschwamm Anvars Blick, und er sah einen Igel, dann wieder eine Frau. Ihr Gesicht erkannte er nun; er hatte es bereits auf der Schnitzerei im Tunnel auf dem Weg zum Zeitlosen See gesehen. Was er für eine Kapuze aus weißen Federn gehalten hatte, war in Wirklichkeit eine wirbelnde Mähne aus schneeweißem Haar. Ihre Augen … Anvar hatte erwartet, daß sie dunkel sein würden wie die eines Falken oder golden wie die eines Adlers, aber statt dessen waren sie ganz bleich, beinahe farblos, so daß sie sich ganz dem weißen Gesicht und dem wintrigen Haar anpaßten. Diese Augen richteten sich jetzt mit beunruhigender Festigkeit auf den Magusch.

»Nun? Ich habe dir eine Frage gestellt. Wie ist es möglich, daß du das Todesportal durchschritten und überlebt hast?«

Angesichts der Ungeduld der Cailleach mußte Anvar sich mit aller Kraft bemühen, seine durcheinander geratenen Gedanken wieder zu sammeln. Er verbeugte sich tief, bevor er antwortete. »Herrin, ich denke, du kennst die Antwort auf deine Frage bereits. Hast du nicht, während ich wie gebannt vor deinem Bild im Tunnel stand, alles erfahren, was ich weiß, und alles, was ich je erlebt habe?«

»Wie gebannt, hm?« Die Mondsteinaugen hatten plötzlich einen Glanz, der voller Zustimmung war – und voll von etwas anderem. »Du hast nicht nur eine gute Beobachtungsgabe, du hast auch einiges Talent im Umgang mit Worten, junger Zauberer. Und natürlich hast du recht. Ansonsten hätte ich vielleicht gedacht, du seiest gekommen, um mich aus meinem einsamen Exil zu befreien.« Ihr kurzes Lächeln erstarb, noch bevor es ihre Augen erreichen konnte, und ihr Gesichtsausdruck wurde wieder kalt. »So, wie die Dinge liegen, bin ich mir wohl bewußt, daß du gekommen bist, um mir die Harfe zu stehlen.«

»Zu stehlen, Herrin?« Anvar versuchte, seine Angst nicht zu zeigen. »Das sind harte Worte. Ich hoffte allerdings, dich überreden zu können, sie mir zu überlassen. Sie wurde von Magusch in der irdischen Welt angefertigt, und dorthin gehört sie auch. Ich muß sie unbedingt haben, um meine Welt vor dem Bösen zu retten.«

»Was? Was willst du tun? Und ganz allein? Bist du also ein großer Held, der eigens dazu gemacht wurde, die Welt zu retten?« Sie versuchte nicht einmal, den Hohn in ihrer Stimme zu verbergen. Anvar, der eine überstürzte Erwiderung nur mit Mühe unterdrücken konnte, hatte sich gerade noch rechtzeitig wieder unter Kontrolle. Es würde ihm nichts nützen, wenn er vergaß, wie mächtig und wie gefährlich dieses Geschöpf in Wahrheit war.

»Kein Held«, sagte er zu der Cailleach. »Das habe ich nie gewollt, nichts dergleichen. Das einzige, was ich wollte, waren meine Kräfte und Aurian. Ganz besonders Aurian. Aber das ist immer noch besser, als die Harfe für zerstörerische Zwecke zu mißbrauchen, oder? Und es ist besser, als etwas so Wunderbares hier verrotten zu lassen, ungeliebt und unbenutzt, unerreichbar von der Welt, in der es geschaffen wurde. Selbst jetzt kann ich die Harfe hören; sie ruft nach mir wie ein Kind, das sich verirrt hat; sie bittet mich, sie nach Hause zu bringen.« Als er diese letzten Worte aussprach, begriff er, daß sie der Wahrheit entsprachen. Der betörende Sternengesang war nicht mit der Brücke gestorben, sondern murmelte leise weiter, irgendwo ganz weit hinten in seinen Gedanken. Aber jetzt trug die Musik Worte zu ihm herüber: halb verstanden zunächst, aber doch mit jedem Augenblick klarer.

Die Cailleach hob eine Augenbraue. »Die Harfe singt dir zu?«

Aber Anvar hörte das Zittern des Zweifels hinter ihrem Hohn, sah, wie ihre Augen kaum merklich flackerten, bevor sie ihn erneut mit Blicken zu durchbohren schien. Doch es war tatsächlich wahr, die Harfe sang ihm zu, sang mit der kristallenen Sternenmusik der Brücke, sang zu ihm in den Tiefen seines Bewußtseins. Und die Harfe sagte ihm auch, wie er der Cailleach antworten mußte. »Natürlich singt sie mir zu. Das weißt du doch. Wer hat den Wellen des Sees verboten, mir Schaden zuzufügen? Wer hat die Brücke der Sterne gebaut, über die ich hierhergekommen bin? Zuerst dachte ich, das alles sei dein Werk gewesen, aber jetzt weiß ich es besser.« Anvar hob den Kopf und sah der Cailleach in die Augen. Ihre Blicke schlugen aufeinander wie zwei stählerne Klingen. Die Herrin der Nebel war die erste, die den Blick senkte. Als sie den Magusch wieder ansah, lächelte sie.

Keine Spur mehr von dem alten Weib. Keine Spur mehr vom Adler. Ihr Gesicht war makellos jung und verführerisch. Wunderschön. Unwiderstehlich. Anvars Herz schlug schneller. »Narr«, sang die Harfe weit hinten in seinem Verstand. »Tor! Hüte dich vor Betrug …« So, wie die Macht des Erdenstabs einen eindeutig männlichen Aspekt hatte, so war die Melodie der Harfe unbestreitbar weiblich.

»Wo bist du?« rief der Magusch ihr in Gedanken zu. »Wie kann ich dich finden?«

»Im Innern. Im Innern …« Anvar blickte grinsend zu der Cailleach auf. »Warum bittest du mich nicht hinein?« Da sah er plötzlich in ihren Augen so etwas wie Triumph aufblitzen. Sie winkte ihn die gewundene Treppe hinauf, und als er in das goldene Glühen jenseits des Portals trat, hörte er, wie sich die Tür hinter ihm schloß wie die stählernen Klauen einer Falle.

Das goldene Licht schien im Innern noch viel heller. Es verwirrte seine Augen, brannte sich in sein Gehirn. Es war wie ein Sturz mitten in das Herz der Sonne hinein. Anvar taumelte nach vorn, blind, schwindlig, orientierungslos. Er hörte das gackernde Triumphgelächter eines alten Weibs – oder war es der harte Schrei eines Raubvogels? Arme schlangen sich um seinen Hals, zogen ihn zu Boden, klauenscharfe Nägel durchbohrten seine Haut. Ein sich windender Körper klammerte sich an ihn und preßte sich an sein Fleisch. Feuchte Lippen legten sich auf seinen Mund, saugten seinen Atem ein, zogen die Lebenskraft aus seinem Körper heraus. Anvar kämpfte, versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu bekommen, und ertrank in einer gewaltigen Woge, ertrank in der Lust dieser Kreatur …

»Der Stab, du Narr! Benutze den Stab, bevor sie ihn dir wegnimmt’.« Der Gesang der Harfe schnitt schrill durch sein dahintreibendes Bewußtsein. So groß war seine Macht, daß Anvar instinktiv gehorchte. Er hob seine rechte Hand und ließ den Stab der Erde mit einem gewaltigen Krachen auf das Haupt des monströsen Sukkubus niedersausen.

Die Vampirgeliebte verschwand. Die Luft zerriß unter einem gewaltigen Schrei, und die Welt versank in Dunkelheit.

25

Heilung

Es war tiefe Nacht, als Aurian und ihre geflügelte Eskorte Aerillia erreichten. Die Himmelsleute, die sie trugen, waren eindeutig unglücklich über das Risiko eines Flugs im Dunkeln, und um das Problem noch zu vergrößern, lagen die Gipfel unter tief hängenden Wolkenbänken, die die Sicht noch weiter einschränkten.