Galdrus hatte sein Zögern bemerkt. »Ja?« Das Wort war eine offene Herausforderung. »Möchtest du etwas, Chiamh? Sollen wir dir vielleicht sagen, wo das Badezimmer liegt?« Dann hob er seine Nase hoch in die Luft und hielt sie sich mit zwei Fingern zu, worauf sein aufmerksames Publikum nur um so lauter lachte.
»Stell dich diesen Kerlen, du Narr! Wenn du jetzt weglaufet, werden sie dich den Rest deiner Tage quälen.«
O Göttin, dachte Chiamh. Nur die Verrückten hören Stimmen! Er versuchte zu fliehen, in die Festung zu entkommen, aber als sein Fuß die Türschwelle berührte …
»DREH DICH UM UND ZEIG IHNEN, WER DU BIST!«
Diesmal war es kein Rüstern – das laute Gebrüll hätte ihn beinahe umgeworfen. Die Wachen mußten es auch gehört haben – aber nein. Sie hielten sich immer noch die Nasen zu und rissen dumme Witze. Plötzlich hatte Chiamh genug. Wo auch immer die Stimme hergekommen war, sie hatte recht. Obwohl der Sturm sich ein wenig gelegt hatte, fegte der Wind immer noch um die Ecken des Gebäudes; mehr als genug für seine Zwecke. Chiamhs Blick wurde glasig und klärte sich dann wieder, während er seine Andersicht herbeirief. Er packte eine große Handvoll des schimmernden Windes, zog sie in die Form eines gräßlichen, geifernden Dämons und schleuderte ihn vor die höhnisch grinsenden Wachen.
Galdrus fiel schreiend auf die Knie. Einige der Männer zogen ihre Waffen, mit Gesichtern, die starr vor Angst waren, während andere versuchten zu fliehen, aber in der Ecke neben der Tür des großen, steinernen Bollwerks gefangensaßen. Chiamh lachte. Bevor das laute Gewimmer der Wachen die Aufmerksamkeit der Leute in der Festung erregen konnte, holte er seine Vision wieder zu sich zurück, schleuderte die Hände weit von sich, befreite und zerstreute die Winde und löste den Dämon so wieder auf.
Die Wachen rafften sich langsam auf, und in ihren Gesichtern stand eine häßliche Mischung aus Zorn, Abscheu und Demütigung. Dem Geruch nach zu urteilen, hatte mehr als einer von ihnen sich besudelt. Das Windauge kicherte. »Vielleicht solltet ihr euch jetzt selbst in Richtung Badezimmer begeben«, sagte er mit strahlendem Lächeln und ging hinein.
Die Andersicht verließ Chiamh, als er die Festung betrat, und mit ihr auch das berauschende Gefühl des Triumphs. Seine Rache war süß und wohlverdient gewesen, aber im nachhinein erfüllte ihn nun ein Gefühl von Scham und Beklommenheit. Ich habe meine Kräfte nicht bekommen, um sie zu mißbrauchen, dachte er bei dem Gedanken an die Furcht und den Haß auf den Gesichtern der Wachen. Ich habe sie vielleicht gelehrt, daß man sich besser nicht über mich lustig macht, aber ich habe heute keine Freunde gewonnen.
»Unfug, kleiner Seher! Sie waren nicht deine Freunde und wären es auch nie geworden. Sie fürchteten deine Kraß und haben sich deshalb über dich lustig gemacht – aber heute hast du sie gelehrt, dich zu respektieren, was nur gut ist.«
»Wer bist du?« rief Chiamh und zog damit die neugierigen Blick der anderen Leute in den Korridoren auf sich. Er bekam keine Antwort, aber er hatte auch bereits gelernt, keine zu erwarten. »Ich werde dieser Sache auf den Grund gehen«, murmelte er, »komme, was da wolle.« Aber das war kaum der geeignete Zeitpunkt, seiner Neugier nachzugeben. Zuerst einmal hatte er etwas Wichtigeres zu erledigen: Er mußte die Gefangenen finden.
Chiamh sah sich in der Eingangshalle der Festung um und erbebte. Wie sehr er diesen Ort doch haßte! Sein Körper war feucht von klebrigem Angstschweiß. Wie immer war er sich der gewaltigen Steinmasse, die ihn hier umgab, bewußt und fühlte sich erdrückt und klein. Verloren und unsicher und halb blind tastete er sich weiter, denn ohne die Winde in diesem luftleeren Steingrab war Chiamh gezwungen, sich auf seine elend schlechten Augen zu verlassen.
In glücklicheren Zeiten waren die von Fackeln erleuchteten Korridore der Festung beinahe vollkommen verlassen. Nicht einmal der Rudelfürst verbrachte viel Zeit hier, und die meisten der Xandim gingen von ihrer Geburt bis zu ihrem Tod durchs Leben, ohne jemals einen Fuß in dieses Gebäude zu setzen. Es wurde von Kriegern bewacht, die sich mit ihrer Wache abwechselten, denn niemand wollte für längere Zeit hier festsitzen. Jetzt jedoch hatte der finstere Winter, der das Land in seinen Klauen hielt, diesen Ort bis zur Unkenntlichkeit verändert, denn die Xandim hatten die Schwächsten ihres Volkes hierhergebracht – die Jungen, die Kranken und die Alten –, damit sie in diesen massiven, schützenden Wänden Zuflucht suchen konnten.
Überall spielten Kinder, und ihr Lärm war in dem beengten Raum beinahe ohrenbetäubend; sie spielten in den Korridoren und jagten wie kreischende Wurfgeschosse an Chiamh vorbei. Alte Leute männlichen wie weiblichen Geschlechts, die Taschen und Bündel mitgebracht hatten und die Durchgänge so in ein Labyrinth aus unzähligen Hindernissen verwandelten, erhoben protestierend ihre Stimmen gegen die Jugend, was nicht gerade dazu beitrug, den Lärm zu verringern.
Die Neuigkeit, daß Fremde im Land der Xandim gefangengenommen worden waren, hatte sich wie ein Lauffeuer ausgebreitet und größte Neugier geweckt. Zusätzlich zu denen, die in der Feste Schutz gesucht hatten, kamen nun auch noch viele andere her, um nach Möglichkeit einen Blick auf die Fremden zu erhaschen und die Verhandlung mitzuerleben, die am folgenden Vormittag stattfinden würde. Durch einige Gesprächsfetzen, die er aufgeschnappt hatte, fand Chiamh heraus, daß die Fremden bereits hierhergebracht und in die Kerker gesperrt worden waren, wo sie dem Gericht des Rudelführers entgegensahen.
Als Chiamh endlich nach einer Reihe von Irrwegen seine Gemächer erreichte, verspürte er eine gewaltige Erleichterung. Er trat in sein Zimmer und rümpfte die Nase angesichts des modrigen Geruchs, der dort herrschte. Seit seinem letzten Besuch vor einigen Monaten hatte man seine Räume offensichtlich nicht saubergemacht. Seine Füße hinterließen eine deutliche Spur in dem Staub, der den Boden bedeckte, und das Windauge nieste. Chiamh seufzte. So etwas wäre seiner Großmutter nie passiert. Ihre Gemächer hatten sich im äußeren Teil des Bergfrieds befunden, dort, wo es Fenster gab, um die süßen Brisen des Windes und das aufmunternde Licht des Tages einzulassen. Er, Chiamh, dagegen war gezwungen, sich mit diesem düsteren Rattenloch tief in den Eingeweiden der Felsen zufrieden zu geben, aber wenigstens lagen seine Räume in bequemer Nähe zu den Kerkern – und gerade jetzt war das genau das, was er brauchte. Sobald er Kontakt zu den Gefangenen aufgenommen hatte, konnte er vielleicht herausfinden, in welcher Verbindung sie zu den hellen Mächten standen – und er erhoffte sich auch einen Hinweis, welche Rolle Schiannath, der Ausgestoßene, in den kommenden Ereignissen spielen sollte.
Das Windauge erinnerte sich mit Scham an seine Mitwirkung bei der Zeremonie, mit der der Krieger und seine Schwester verbannt worden waren. Als Schiannaths Herausforderung fehlgeschlagen war, wurde er, wie es die Tradition wollte, verbannt, und Iscalda, die eine tiefe Zuneigung zu ihrem Bruder verband, hatte darauf bestanden, ihm zu folgen. Chiamh war gezwungen gewesen, seine Kraft zu gebrauchen, um ihrer beider Namen aus dem Wind und möglichst auch aus der Erinnerung des Stammes zu löschen.
Der Rudelführer hatte Iscaldas Bestrafung noch eine grausame, zusätzliche Klausel hinzugefügt. Sie war seine Verlobte gewesen und hatte ihn aus Treue zu ihrem Bruder im Stich gelassen. Obwohl die Xandim die Fähigkeit besaßen, sich ganz nach Belieben von menschlicher Gestalt in Pferdegestalt zu verwandeln, konnten sie nur als Menschen Kinder zeugen. Es gab jedoch einen uralten Zauber, der von Windauge zu Windauge weitergegeben wurde und die Verwandlung unterbinden konnte, so daß das Opfer in seinem Pferdeleib gefangen blieb. Der Rudelfürst hatte darauf bestanden, daß Iscalda mit diesem Fluch belegt wurde, so daß sie und ihr Bruder nie ein Kind zeugen konnten.