Chiamh riß seine Gedanken mit Gewalt von dieser Erinnerung los. Obwohl der Rudelfürst ihn zu dieser Tat gezwungen hatte, erfüllte sie ihn doch immer noch mit Scham. Aber er würde seinem Ziel, die Gefangenen zu finden, nicht näherkommen, indem er weiter bei dieser Schande verweilte.
Chiamh ging hinüber zur Wand und ließ seine Hände über den Stein gleiten; er suchte einen Riß in der glatten Oberfläche. Obwohl dieses Gebäude aus einem einzigen, nahtlosen Stein bestand, gab es diese kleinen Risse doch überall. Das Windauge vermutete, daß die Festung durch diese winzigen Spalten, die den Stein durchzogen, belüftet wurde. Sein kurzsichtiger Blick war ihm nur von geringem Nutzen, aber im Laufe der Jahre hatten seine Hände eine geradezu unheimliche Empfindlichkeit für die Luftströme entwickelt, die die Werkzeuge seiner Macht waren – er brauchte nur den Hauch eines Windzugs zu finden …
Wieder einmal spürte das Windauge die vertraute, schmelzende Kühle, als seine Andersicht über es kam. Diesmal war Chiamh so versessen auf das, was er vorhatte, daß es ihm nicht einmal in den Sinn kam, Angst zu haben. Ah, da hatte er ihn. Er konnte den Luftzug sehen – ein winziges, gewundenes, silbernes Band … Chiamh goß das mystische Bewußtsein seiner Andersicht in die beweglichen Luftpfade und begann ihnen zu folgen; sein Bewußtsein verließ seinen Körper, um wie ein Aal durch die winzige Spalte in dem Stein zu schlüpfen und dem Luftstrom durch ein Labyrinth schmälster Klüfte zu folgen.
Chiamh kroch langsam vorwärts und tastete sich blind durch die hauchdünnen Risse im Felsen. Er folgte den feinsten Veränderungen des Luftstroms und bewegte sich stetig auf den Ort ungesundester Feuchtigkeit zu. Endlich, nachdem er mehreren falschen Spuren gefolgt war, die ihn in verlassene Gemächer und Zellen gerührt hatten, wurde seine Geduld belohnt. Er spürte ein leises Kribbeln, als die Luft um ihn herum mit dem undeutlichen Ton von Stimmen vibrierte, die eine fremde Sprache sprachen. Triumphierend ließ das Windauge sein Bewußtsein durch einen Spalt im Felsen gleiten, fand sich im tiefsten Teil der Kerker wieder und hatte plötzlich die Fremdländer aus seiner Vision vor sich.
Auf und ab, auf und ab lief Meiriel in dem schmalen Raum ihrer Zelle. Es gab kein Licht. Sie hatten sie hier hineingesteckt, hatten sie zu der Qual endloser Dunkelheit in diesem unterirdischen Grab verdammt, dessen Tür mit Magie verriegelt und verschlossen war. Sie. Eliseth und Bragar. Die Heilerin ballte die Fäuste zusammen, bis ihr die Fingernägel in die Handflächen schnitten, und ein undeutliches Knurren entstieg den Tiefen ihrer Kehle. Sie hatten jetzt die Macht – sie und diese blindwütigen, entstellten Kreaturen, die Finbarr ermordet hatten.
Meiriels Lippen zogen sich zu einem wilden Fauchen zurück. »Ich kenne dich, Miathan«, zischte sie: »Mich kannst du nicht hintergehen! Ich sehe alles, auch hier unten im Dunkeln. Ich sehe, wie du dich in Schmerzen windest, sehe diese schwarzen, verkohlten Löcher in deinem Kopf – und die noch schwärzeren Löcher in deiner Seele! Ich sehe das Kind in Aurians Bauch – das Monster, das du geschaffen hast – den Dämon, den ich zerstören muß …«
Während eines wilden und ereignisreichen Lebens hatte der Kavalleriemeister herausgefunden, daß alle Gefängnisse mehr oder weniger gleich aussahen. Parric, dem die Zellen der Garnison in seinen Jugendtagen nicht fremd gewesen waren, fühlte sich in die Vergangenheit zurückversetzt – feuchte Steinwände, glimmende, qualmende Fackeln und das verlauste, stinkende Stroh in der Ecke. Aber Dank sei den Göttern, daß sie alle zusammen waren. Hätte man ihn allein in einen der Kerker gesperrt und ihn so gezwungen, über das Schicksal seiner Kameraden nachzudenken, hätte er seiner Angst vielleicht nachgegeben. So wie die Dinge lagen, konnte er die anderen nun seit Tagen zum ersten Mal wieder sehen – allerdings war ihr Anblick keineswegs beruhigend. Auf Sangras Gesicht zeigten sich Schmutz und blaue Flecken; mit grimmiger Entschlossenheit erwiderte sie in dem dämmrigen Licht seinen Blick. Elewin, unter dessen Augen dunkle Schatten lagen, hustete Blut. Und Meiriel – bei den Göttern, wenn sie doch nur dieses endlose Auf- und Abgehen seinließe! Sie murmelte etwas von Tod und Dunkelheit, und der Wahnsinn hatte ihr Gesicht zu einer wilden, grausamen Grimasse verzerrt. Parric war verärgert. Nein, er war fuchsteufelswild und unerträglich frustriert. Er vergaß die Gefahr, in der er selbst schwebte, er sah nur seine Kameraden und wie sie litten.
»Laßt mich hier raus!« Der Kavalleriemeister hämmerte mit den Fäusten auf die unnachgiebige Tür ein. »Ihr sollt verflucht ein, laßt mich mit irgend jemandem reden!« Er wirbelte herum und stürzte sich auf Meiriel. »Du sprichst ihre Sprache! Sag es ihnen, du Hexe! Sag ihnen, daß wir nicht ihre Feinde sind!«
»Ach, seid ihr das nicht?« Die Stimme war sanft und schwer faßbar und schien von überallher zu kommen.
»Großer Chathak!« hauchte Sangra. »Ist das wirklich?«
Parric starrte mit offenem Mund die Wand an. Der Kerker, der ohnehin kühl war, war plötzlich noch kälter geworden. Ein Windstoß ging durch die Zelle und wehte die widerliche Feuchtigkeit fort. Dort in der Ecke stand ein junger Mann, an dem eigentlich nichts Besonderes war – außer daß der Kavalleriemeister durch seinen Körper hindurch die tropfende Fackel und die rauhen Steinmauern des Gefängnisses sehen konnte.
Parric machte einen Schritt zurück; er verspürte ein Kribbeln auf der Kopfhaut, und sein Mund war plötzlich wie ausgedörrt. Ein Geist? Normalerweise hätte der Kavalleriemeister über einen solchen Unsinn nur gelacht, aber nachdem er in Nexis die Nacht der Todesgeister miterlebt hatte, hatte sich seine Beziehung zum Unsichtbaren verändert. Seine Eingeweide zogen sich zusammen, und kalte Schauer jagten über sein Fleisch. Instinktiv griff er nach dem Schwert, das die feindlichen Krieger ihm weggenommen hatten.
»Wer sind die hellen Mächte?« wollte die Erscheinung wissen. Parric war verwirrt, denn die Worte schienen in seiner eigenen, nördlichen Sprache gesprochen zu sein, aber nach der Bewegung der Lippen der Geistergestalt war es ganz offensichtlich, daß die Erscheinung eine andere Sprache sprach. Parric runzelte die Stirn. Es schien, als würden sich die Worte, wenn sie die Lippen des Geistes verließen, in der Luft umdrehen, um so an seine Ohren zu dringen, daß er sie verstehen konnte. Die Erscheinung sprach jedoch noch immer, und Parric riß seine Aufmerksamkeit mit Gewalt von dem Rätsel los, um sich auf die Worte des Geistes konzentrieren zu können.
»Ich muß es wissen«, beharrte die Erscheinung. »Wer sind die bösen Mächte, die die Nordwinde reiten und den Winter bringen?«
»Der Erzmagusch Miathan ist böse.« Parric war erleichtert darüber, daß Meiriel so weit in die Realität zurückgekehrt war, um endlich etwas zu sagen. Das Übernatürliche war die Domäne der Magusch, und im Augenblick hätte er einfach keine Antwort zustandegebracht. Die Erscheinung runzelte die Stirn. »Wer ist der Erzmagusch Miathan?«
Der Kavalleriemeister war froh, die Erklärungen zum Erzmagusch Meiriel überlassen zu können. Unglücklicherweise schien der Geist mit ihrem unzusammenhängenden Bericht über Miathans Grausamkeiten nicht zufrieden zu sein. »Erklär mir das!« forderte der Geist. »Du hast von den dunklen Mächten gesprochen, aber was ist mit den hellen Mächten? Wer sind die Hellen, zu deren Unterstützung ihr hierhergekommen seid?«
»Ich weiß nichts von irgendwelchen Hellen, aber ich bin hierhergekommen, um nach der Lady Aurian zu suchen.« Endlich hatte Parric seine Stimme wiedergefunden. Hilfesuchend blickte er zu Elewin hinüber, aber der alte Mann war zu tief in seinem Fieber versunken, um antworten zu können. Der Kavalleriemeister mußte die Last der Erzählung also selbst auf sich nehmen, was bei weitem keine leichte Aufgabe war. Die ganze Angelegenheit kam ihm immer unwirklicher vor, wie er da in dem Kerker eines fremden Landes saß und einem Geist von seiner Freundschaft mit Forral und von Aurian erzählte, die Forrals Kind unter dem Herzen trug, und von Forrals Ermordung durch Miathan. Mit unbeholfenen Worten erzählte er, wie Aurian und ihr Diener Anvar aus Nexis geflohen waren und warum man sie hier im Süden vermutete. Schließlich erzählte er dem Geist, wie er und Vannor ihren Rebellentrupp aufgebaut hatten – und wie er sie alleingelassen hatte und zu dieser übereilten, impulsiven Reise aufgebrochen war, um Aurian zu suchen.