»Ich bekomme keine Luft mehr!« stöhnte Aurian. Sie lachte und weinte gleichzeitig, und ihr Gesicht leuchtete vor Freude. »Oh, mein lieber, lieber Bohan. Ich bin ja so froh, dich wiederzusehen!«
»Und er ist froh, dich wiederzusehen«, sagte Yazour, der sich auf leisen Sohlen genähert hatte, und seine Stimme war wie immer sanft und tief. Sein hübsches Gesicht war durch ein geschwollenes Auge entstellt, das sich mittlerweile zu leuchtendem Purpur verfärbt hatte, aber er begrüßte Aurian mit einem glücklichen Grinsen. »Du hast ja keine Ahnung, wie schwer er es uns gemacht hat, seit wir dich das letzte Mal gesehen haben, Herrin«, fuhr er fort. »Wir mußten ihn bewußtlos schlagen, um ihn von dir wegzubekommen, und Eliizar und ich mußten ihn die ganze Zeit bewachen, um ihn davon abzuhalten, zurück in die Wüste zu gehen und nach dir zu suchen. Als der Sturm aufkam, konnten wir ihn kaum halten – er war vollkommen außer sich.« Der junge Krieger berührte sein fast schwarzes Auge und lächelte kläglich. »Was für ein Segen, daß du endlich wiedergekommen bist. Ich glaube, er hat Eliizar sämtliche Zähne ausgeschlagen!«
»Aber überhaupt nicht – nur ein paar«, murmelte Eliizar durch seine geschwollenen Lippen. »Und für einen guten Zweck kann ich sie erübrigen!«
»Nur gut, daß Yazour das geschwollene Auge hat und nicht du«, neckte Anvar ihn. »Noch ein Auge hättest du nicht entbehren können!«
Eliizar drehte sich um und klopfte dem großen, blauäugigen Magusch auf die Schulter. »Beim Schnitter, Anvar, ich hätte mein gesundes Auge gegeben, um euch beide nach diesem Sturm lebendig und sicher wiederzusehen … Was ist denn daran so komisch?« fügte er verwirrt hinzu, als seine Kameraden in schallendes Gelächter ausbrachen.
»Was hättest du denn sehen können, wenn du auch noch dein anderes Auge verloren hättest, du alter Narr?« sagte Nereni mit einem fröhlichen Kichern zu ihrem Mann. »Komm, Eliizar – wir wollen uns alles weitere aufheben, bis Aurian und Anvar sicher im Lager sind.« Sie wandte sich an die beiden Magusch. »Kommt, meine Lieben – ihr braucht ein Bad und Ruhe und eine gute, warme Mahlzeit.«
Der Eunuch trug Aurian auf seinen Armen den sandigen Hügel hinauf, während Nerenis gutmütiges Kichern ihn jeden Schritt des Weges begleitete. Yazour und Eliizar, die immer noch grinsten, halfen dem schwachen Anvar den steilen Hügel hinauf. Bohan mußte genau aufpassen, wo er hintrat, um mit seiner kostbaren Last nicht zu stolpern, denn Shia, die sich mit ihm angefreundet hatte, als sie und Aurian der Arena in der Khazalimstadt Taibeth entkommen waren, strich ständig um seine Beine, stupste ihn mit dem Kinn und schnurrte vor Freude^ ihn endlich wiedergefunden zu haben.
Über den Gipfel der Anhöhe führte ein schmaler Weg, der überwuchert war von niedrigen Dornbüschen und üppigen Pflanzen mit saftigen Blättern und übersät mit verkümmerten, vom Wind verzerrten Pinien, die es geschafft hatten, die zerstörerischen Angriff der tödlichen Wüstensandstürme zu überleben. Auf der anderen Seite des Hügels fiel das Land wieder ab; und hier, geborgen in einem langgestreckten Tal, das sich sanft den Vorhügeln des Gebirges entgegenstreckte, lag wie eine gewaltige, grüne Wolke ein dichter Wald.
Der Eunuch, der Aurian so vorsichtig in seinen Armen hielt, als könne sie wie Glas zerbrechen, überquerte das Plateau und trug die geschwächte Magusch über den rauhen Pfad, den sie sich durch die Dornenbüsche gehackt hatten. Dann beugte er sich tief hinunter, um den herabhängenden Zweigen auszuweichen, und lief den Hügel hinab bis in den Wald hinein.
Wegen seines kargen Standorts am Rande der Wüste hatte der Wald das zähe, kahle, wettergegerbte Aussehen eines wahren Kämpfers. Die Bäume waren Zypressen und Pinien – unfruchtbar und auf düstere Weise bedrohlich, aber höchst willkommen nach dem harten, kargen Land der Khazalim –, und ein unerwarteter Segen hatte ihre uralte, grimmige Düsternis aufgehellt. Die Schneeschmelze des furchtbaren Winters, der die Berge mit seinem Schreckensregiment eingeschlossen hatte, durchzog die wärmeren Vorhügel mit lebendigen, neuen Bächen, die die mit Felsbrocken übersäten Hänge hinunterplätscherten, um in geschützten Mulden glitzernde Teiche zu bilden. Dieses zusätzliche Wasser hatte den Wald prachtvoll aufblühen lassen. Wo das Auge auch hinsah, versprühten Blumen ihre Farbenpracht. Flecken von verschwommenem Blau und munterem Rosa, zartes, spitzenartiges Weiß und Teiche aus hellem Gold, wie versprengte Münzen – ein Überfluß von Blüten in allen Formen und Größen, umschwärmt von einem jubilierenden Hofstaat aus Schmetterlingen und Bienen. Und über allem ein Gemisch aus dem Parfüm der Blüten und dem prickelnden Duft des Immergrüns, das jeden Atemzug zu einem herrlichen Geschenk machte.
Nachdem er sein ganzes Leben in den unfruchtbaren Gebieten der Khazalim verbracht hatte, war Bohan von der Schönheit des Waldes restlos verzückt. Nach der Wüste erschien dieses schattige, grüne Waldland wie ein Wunder, und der Eunuch lächelte über Aurians Freudenschreie, während sie immer tiefer in den Wald hineingingen. Er konnte es kaum erwarten, ihr all die Wunder dieses erstaunlichen Ortes zu zeigen.
Das notdürftige Lager war nicht weit vom Waldrand entfernt, nahe den Ufern eines neugeborenen Flüßchens, das mit seinen plätschernden Wassern die Wurzeln einer gewaltigen Pinie ausgewaschen hatte. Der Baum war umgestürzt und lehnte sich nun gegen seine Nachbarn, wobei sich seine Zweige sicher in denen seiner Kameraden verankert hatte, um den Reisenden ein grobes, gewölbtes Schutzdach zu bieten.
»Das ist nur eine Notlösung«, sagte Eliizar, als Bohan die erschöpfte Aurian unter dem Baumdach absetzte. Während er sprach, kniete er sich bereits nieder, um ein Feuer anzufachen. »Wir sind hier zu nah am Fluß – es ist feucht, und das Land kann jederzeit überflutet werden. Wir wollten ein besseres Lager tiefer im Wald errichten – Yazour hat eine geradezu vollkommene Lichtung gefunden –, aber wir konnten nicht von hier weg, solange noch die Chance bestand, daß ihr kommen konntet.« Er blickte zu dem Eunuchen auf und lächelte. »Außerdem hätte Bohan es niemals zugelassen!«
Nereni, die sich bereits energisch über ihre Kochtöpfe beugte, scheuchte ihren Mann vom Feuer weg. »Holst du mir bitte etwas Wasser, Eliizar? Die drei müssen völlig ausgedörrt sein, die Armen, und ich muß mich um ihre Wunden kümmern. Also, wo habe ich nur diese Salbe hingetan? Und Yazour, ich brauche ein paar Stücke von dem Hirsch, den du heute morgen geschossen hast. Bohan kann dir helfen, sie herbeizuschaffen – und vergiß nicht, eine Keule für Shia mitzubringen. Oder, wenn ich so recht darüber nachdenke, bring besser zwei mit. Sie sieht ziemlich ausgehungert aus.«
Forral freute sich über Aurians glückliches Wiedersehen mit ihren Freunden. Bohan grinste von einem Ohr zum anderen. Der geschmeidige Yazour, der sich das dunkle Haar zu einem langen Pferdeschwanz zurückgebunden hatte, erglühte in stillem Glück. Eliizar und seine mollige, geschäftige Frau strahlten vor Freude.
Der Schwertkämpfer lauschte voller Zufriedenheit, während Eliizar Aurian und Anvar das Lager zeigte. Hier konnten sie sich von den Härten der Wüste erholen und sich dank der reichen Geschenke des Waldes auf den nächsten Abschnitt ihrer Reise vorbereiten. Alle waren fleißig gewesen – selbst die Pferde, die in der Nähe angebunden waren, grasten, als gelte es ihr Leben. Sie entschädigten sich dafür, daß sie in der Wüste nur mit knapper Not dem Hungertod entkommen waren, und verbrachten die ganze Zeit im Wald damit zu fressen. Es war deutlich zu sehen, wie sehr ihr Zustand sich bereits gebessert hatte.
Eliizar und seine Kameraden hatten zusammengearbeitet, um grobe Schutzzelte aus geflochtenen Zweigen aufzubauen. Nereni hatte eßbare Pflanzen gesammelt, während Yazour und Eliizar auf die Jagd nach Ziegen, Wildschweinen und Hirschen gegangen waren. Bohan hatte ein unerwartetes Talent für den Kaninchenfang in sich entdeckt. Forral, der jede einzelne ihrer Errungenschaften vermerkte, sah ihnen zufrieden zu. Er hatte keinen Zweifel daran, daß Aurian hier in Sicherheit sein würde – zumindest für den Augenblick.