»Und so überantworten wir den Leib unseres Bruders, des Magusch Bragar, dem Feuer und seinen Geist den Göttern …« Der Erzmagusch Miathan stimmte die Schlußworte der Todeszeremonie mit einem hastigen Singsang an, der nicht den geringsten Respekt für den verstorbenen Feuermagusch erkennen ließ, dessen zusammengeschrumpfte, versengte Überreste nun auf dem großen, steinernen Altar des Dachtempels auf dem Maguschturm in Nexis lagen. Eine Verschwendung kostbarer Zeit, dachte Miathan gereizt – Bragar, ein dummer, oberflächlicher, übermäßig ehrgeiziger Maulheld, hatte nicht das geringste getan, um diese Ehre zu verdienen.
»Und so soll er denn gehen, mit unseren Gebeten und unserem Segen.« Die letzten Worte stieß er mit verächtlich geschürzten Lippen aus, dann hob er seinen Stab und ließ einen einzigen Strahl einer blutroten Flamme los. Der Strahl traf die Leiche mit einem gewaltigen Aufflackern, das den wolkenverhangenen Himmel über Nexis zu versengen schien und das glitzernde Netzwerk des Frosts, das die hohen Zinnen des Tempels versilberte, zum Schmelzen brachte.
Noch bevor Bragars Körper auch nur zu zischen und zu rauchen begann, eilte Miathan bereits mit langen Schritten auf die Treppe zu, die in den Turm hineinführte. Als er an Eliseth vorbeikam, die sich der beißenden Abendkühle wegen in einen pelzgesäumten Umhang gehüllt hatte, durchbohrte er die Wettermagusch mit seinem Blick und hatte die Befriedigung, zu sehen, wie sie vor ihm zurückschrak; ihr eisiger Hochmut war zusammen mit der Schönheit ihres einstmals hübschen Gesichtes verschwunden.
Als er die jämmerlichen Reste dessen sah, was einmal perfekte Gesichtszüge gewesen waren, lächelte der Erzmagusch grausam. Er hatte den Gral benutzt, der aus einem Teil des Kessels der Wiedergeburt geformt war, und die Wettermagusch mit einem Fluch belegt, der sie zu einem gebeugten und verhutzelten alten Weib machte. Eliseth war immer so eitel gewesen, was ihr Aussehen betraf. Er hätte keine bessere Möglichkeit finden können, sie dafür zu bestrafen, daß sie Aurian in den Tod locken wollte, indem sie eine Vision von Forral schuf, dem ermordeten Geliebten der Magusch. Die List war auf unfaßbare Weise fehlgeschlagen und hatte statt dessen zu Bragars Tod geführt.
Als er an ihr vorüberging, sah Miathan kalten Haß in Eliseths Augen brennen und rief sich noch einmal ins Gedächtnis, daß er sie in Zukunft immer würde im Auge behalten müssen. Für den Augenblick jedoch würde sie gehorchen – dafür hatte er gesorgt-, aber das würde nicht für alle Zeiten so bleiben.
Mit einem Schulterzucken setzte der Erzmagusch seinen Weg fort und ignorierte den gehässigen Blick der Magusch. Er hatte noch viel zu tun. Der Anblick von Aurian und Anvar in seinem Kristall, wie sie aus der Wüste kamen, drängte ihn zum Handeln. Er mußte sie in seine Gewalt bekommen, bevor Aurian ihre Kräfte wiedererlangte – und solange Eliseth noch zu verängstigt war, um sich einzumischen. Schon jetzt lag ein Netz um die ahnungslosen Flüchtlinge, das sich langsam zuzog. Seine Marionette, der törichte junge Prinz, würde sich im Wald jenseits der Wüste mit dem geflügelten Mädchen treffen, und Miathan hatte die Absicht, seinen Körper zu verlassen und dorthin zu reisen, um Harihns Geist zu kontrollieren und sicherzustellen, daß der junge Mann seinen Befehlen gehorchte. Aber zuerst mußte der Erzmagusch Kontakt zu Schwarzkralle aufnehmen, dem Hohenpriester der Geflügelten.
Miathan bedauerte es, daß Bragars Verbrennung ihn davon abhielt, den Dachtempel zu benutzen, um die düstere, geheime Zeremonie durchzuführen, die sich die Todesmagie des Kessels zunutze machte und ihm gestattete, seinen Geist in so weite Fernen zu senden. Es würde mehr als nur ein Menschenopfer kosten, um ihm die Macht zu verschaffen, die er dazu brauchte, bis in das ferne Aerillia zu gelangen, die Zitadelle der Geflügelten. Und ohnehin, so überlegte er mit grimmiger Belustigung, war es ein zu bitterkalter Tag, um draußen eine magische Zeremonie vorzunehmen – Sterbliche konnten schließlich überall geopfert werden.
»Wo, im Namen des Himmelsgottes, steckt dieser verfluchte Erzmagusch!« schrie Schwarzkralle den stummen Kristall an. »Antworte mir, du nutzloser Stein. Ich verlange, mit Miathan zu sprechen!« Wutschnaubend trat er nach dem geschnitzten Sockel, auf dem der Kristall lag. Als der düster glitzernde Edelstein von seinem hölzernen Podest kullerte, versuchte der Hohepriester noch verzweifelt, ihn aufzufangen, aber er war nicht schnell genug. In einer Explosion von Funken schlug der Kristall auf dem Boden auf und zersplitterte in tausend Stücke.
»Nein!« heulte der Hohepriester auf. Er fiel auf die Knie und raffte die leblosen Bruchstücke zusammen, wobei er die Luft mit Flüchen versengte. Wie groß sein Zorn auch gewesen sein mochte – wie hatte er sich nur dazu hinreißen lassen können, seine einzige Möglichkeit zu zerstören, mit seinem Verbündeten Kontakt aufzunehmen? Schwarzkralle fletschte erbittert die Zähne. Warum hatte Miathan nicht geantwortet? Er warf einen zornigen Blick auf die Wände seines Gemachs, als wolle er ihrer dunklen, spiegelglatten Oberfläche die Antwort auf seine Fragen entringen. Es war lebenswichtig, mit dem Erzmagusch zu sprechen. Der tödliche Winter, durch den er sich die Oberherrschaft über das Himmelsvolk verschafft hatte, schwand plötzlich dahin.
Schwarzkralle erhob sich, schüttelte seine staubigen, schwarzen Schwingen und eilte zu dem breiten, gewölbten Fensterflügel hinüber. Vielleicht konnte er diesmal seine eigenen Augen Lügen strafen? Aber an den eleganten Türmen der Stadt hingen tropfende, fransig gewordenen Eisspeere, und noch während er hinsah, rutschte ein Schneebrett das Dach des Königinnenturms hinunter, um mit einem deutlich hörbaren Krachen auf den Boden zu klatschen. Als er Stimmen hörte, beugte Schwarzkralle sich aus dem Fenster, um einen Blick auf die Stadt zu werfen, nach der es ihn so gelüstete. Überall zwischen den Spitztürmen flogen Geflügelte hin und her und stießen, während sie den Schneebrocken auswichen, laute, aufgeregte Schreie aus. Die Freude, die in ihren Stimmen mitschwang, war wie Galle in der Kehle des Hohenpriesters.
Schwarzkralle war zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, um dem seltsamen Rumoren über seinem Kopf Aufmerksamkeit zu schenken. Da er sich sehr weit aus dem Fenster gelehnt hatte, erwischte ihn die Schnee- und Eislawine vom Dach genau zwischen den Schultern, so daß er für einen Augenblick nach Luft ringen mußte. Sein kahler Kopf war von Schneematsch bedeckt, und Eis glitt ihm durch den losen Kragen seines Umhangs. »Beim alles sehenden Auge Yinzes, das lasse ich mir nicht länger gefallen«, heulte der Hohepriester, während er wie wild herumtanzte und versuchte, den Schnee aus seiner Robe herauszuschütteln. »Wo steckt dieser verdammte Erzmagusch?«
Schwarzkralle warf das Fenster hinter sich zu und verfluchte den Verlust der magischen Kräfte, der seine Rasse seit der Verheerung quälte. Stunde um Stunde hatte er über diesem verabscheuenswerten Kristall gebrütet und verzweifelt versucht, seinen Geist über die vielen Meilen zu schicken, die ihn von Miathan trennten. Seine Bemühungen hatten ihm nichts anderes eingetragen als hämmernde Kopfschmerzen und den Verlust seines kostbaren Juwels. Es würde zu lange dauern, ein anderes anzufertigen – bis dahin hatte er vielleicht seine Herrschaft über die Geflügelten wieder eingebüßt.
Schwarzkralle war geradezu verzweifelt darum bemüht, die Würde seiner Rasse wiederherzustellen. Vor ihrem Niedergang hatte das Himmelsvolk zu den vier großen Rassen der Magusch gezählt – der Wächter, die die Götter ernannt hatten, um über die Ordnung in der Welt zu wachen. Bevor man ihnen in einem verhängnisvollen magischen Krieg um die Oberherrschaft ihre Kräfte geraubt hatte, hatte sein Volk die Aufsicht über das Element der Luft gehabt. Gemeinsam mit den menschlichen Zauberern oder Erdmagusch hatten sie sich um die Vögel und alle anderen Geschöpfe gekümmert, die mit dem Wind flogen. Zusammen mit den mächtigen Leviathanen oder Wassermagusch hatte sie das Wetter der Welt beherrscht.