Hör auf zu träumen, schnaubte Chiamh angewidert. Das war das Schlimme an dieser Gestalt – man hatte die Neigung, wie ein Pferd zu denken, und je länger man sich dem aussetzte, um so größer war das Risiko, jeden Rest menschlicher Intelligenz einzubüßen. Aber genug. Die Zeit raste. Am anderen Ende der Ebene würde er sich wieder zurückverwandeln müssen, um den steilen Klippenweg erklimmen zu können, aber in der Zwischenzeit war es die Sache wert – sowohl wegen der Zeitersparnis als auch wegen der reinen, jubilierenden Freude des Galopps. Mit einem leichten Schlag seiner Hufe stob das Windauge davon und flog mit dem Wind über das Plateau.
In den Ländern des Nordens, jedoch an einem Ort, der unerreichbar war in den Grenzen der menschlichen Welt, lag der Palast des Waldfürsten mit seinen baumartigen Türmen und unzähligen Gärten und Lichtungen. Trügerisch ruhig lag er in abwartender Stille auf einem weiten Hügel. Am schroffen Hang der Anhöhe befand sich ein von Farnkraut umstandener, kristallener Teich, der gespeist wurde von einem silbernen, hauchzarten, plätschernden Wasserstrom aus einem weiter oben gelegenen Felsvorsprung.
Am Ufer des Teichs saß die Lady vom See und kämmte sich die silberdurchzogenen Strähnen ihres langen, braunen Haares. Aus dem Dickicht auf der anderen Seite des Teiches beobachtete sie ein großer Hirsch; unbemerkt, so glaubte er, und unerkannt – bis die Erdmagusch ihm den Blick entgegenhob und lächelte. »Ziehst du diese Gestalt vor, mein Fürst?« Ihre Stimme war tief und musikalisch. Hellorin trat verärgert vor und nahm wieder seine prachtvolle Menschengestalt an. Nur die sich verästelnden Schatten des großen Hirschgeweihs über seinen Brauen blieben als Erinnerung daran zurück, daß dies kein gewöhnlicher Magusch oder gar Sterblicher war – denn der Fürst der Phaerie war mehr als beide. Seine Füße, die in hohen Stiefeln aus weichem Leder steckten, verursachten nicht einmal ein winziges Kräuseln der Wasseroberfläche, als er über den Teich auf Eilin zuschritt. »Die Augen der Magusch waren schon immer sehr scharf«, sagte er schmeichelnd. »So manchen sterblichen Jägersmann habe ich mit dieser Gestalt angelockt und getäuscht.«
Die Lady Eilin lachte. »Jawohl, und so manches sterbliche Mädchen, das möchte ich wetten, hast du mit der Gestalt, die du jetzt trägst, angelockt und getäuscht!«
Hellorin kicherte und verbeugte sich tief vor der Magusch. »Ich habe mein Bestes getan«, bemerkte er hochmütig. »Immerhin, meine Lady – die Phaerie haben einen gewissen Ruf zu verteidigen!«
Dann setzte er sich neben sie auf den duftenden Boden und wandte sich ernsteren Fragen zu. »Ich hätte nicht gedacht, dich hier draußen zu finden. Bist du deiner Wache schließlich müde geworden?«
Eilins Brauen zogen sich zu einem Stirnrunzeln zusammen. »Nicht müde, mein Fürst – nicht körperlich jedenfalls. Es hilft mir, zu sehen, was in der Welt da draußen vor sich geht. Oh, wie sehr es mich erzürnt, nur Zuschauerin sein zu dürfen, obwohl ich mich so sehr danach sehne, frei zu sein – dorthin zu gehen, wo ich so dringend gebraucht werde, um meine Pflicht zu erfüllen.«
Hellorin, der das Zittern von Tränen in ihrer Stimme hörte, richtete die Sternengleichen Tiefen seiner grauen Augen auf sie. »Aber das ist nicht der einzige Grund für dein Unglück. Da ist noch etwas, Eilin, nicht wahr?«
Die Erdmagusch nickte. »Das Fenster in deiner Halle zeigt mein Tal«, sagte sie traurig, »es zeigt Nexis und das ganze Nordland – aber es zeigt mir nicht meine Aurian! Tag um Tag konzentriere ich meinen Willen auf meine Tochter, aber sie ist nirgends zu finden. Wo steckt sie?« Ein Schluchzen erstickte ihre Stimme. »Gefangen in diesem Anderswo, wie ich es bin, würde ich nicht einmal merken, wenn sie stirbt. Und wenn ich sie nicht finden kann, dann muß sie wohl tot sein.«
Das hoffnungslose Weinen der Lady Eilin griff dem Waldfürsten ans Herz. Seitdem er D’arvans Mutter, die Lady Adrina, verloren hatte, war Kummer ein steter Begleiter für Hellorin gewesen, und Eilins Herzweh schmerzte ihn. Schließlich legte er einen Arm um ihre Schultern und zog sie fest an sich. »Fasse Mut«, sagte er zu ihr. »Deine Befürchtungen könnten durchaus grundlos sein. Wenn du Aurians Bild in meinem Fenster nicht sehen kannst, heißt das vielleicht nur, daß sie über den Ozean nach Süden gereist ist.«
Eilin versteifte sich. »Was?« Ruckartig hob sie den Kopf; ein gereiztes Funkeln ließ ihre Augen aufleuchten. »Willst du damit sagen, dein verflixtes Fenster funktioniert jenseits des Meeres nicht?«
Hellorin amüsierte sich darüber, wie schnell sie von Kummer auf Zorn umschalten konnte und wie schnell sie die Regeln der Höflichkeit gegenüber den Phaerie vergaß. Er bemühte sich nach Kräften, ein Lächeln zu verbergen. Ah, es bedurfte wirklich nur des geringsten Anlasses, und ein Magusch war wieder genauso arrogant wie eh und je. Und wie sehr sie ihn in diesem Augenblick doch an seine geliebte Adrina erinnerte. »Hast du daran gedacht, zu versuchen, dort nachzusehen?« erkundigte er sich sanft.
Die Erdmagusch wurde rot. »Aber natürlich!« entfuhr es ihr. »Ich meine – nein! Woher sollte ich auch wissen, wie es in den Südländern aussieht? Ich dachte, dein Fenster würde genauso funktionieren wie eine Glaskugel – ich habe mich auf Aurian konzentriert, und selbst wenn sie im Süden gewesen wäre, dachte ich, müßte das Fenster mich zu ihr führen.« Zu Hellorins Erstaunen schlang sie die Arme um ihn und umarmte ihn. »O ihr Götter!« rief sie, halb lachend, halb weinend. »Was für eine Erleichterung ist es doch, wieder Hoffnung haben zu dürfen. Seit Tagen war ich nun schon überzeugt …«
Es war viele Jahre her, seit Hellorin zum letzten Mal eine Frau – gleich welcher Rasse – in den Armen gehalten hatte. Nachdem er Adrina verloren hatte, hatte er nie wieder den Mut dazu gefunden. Als die Erdmagusch zu ihm aufsah, verfingen sich ihre Blicke und hielten einander fest, bis Eilin wegsah. »Erklär mir«, sagte sie mit einer Stimme, die in den Augen des Waldfürsten angespannt und unnatürlich klang, »warum erstreckt sich die Macht deines Fensters nicht bis über den Ozean?«
»Das Salzmeer bildet eine Barriere für die Alte Magie, die wir Phaerie benutzen.« Hellorin fand seine Stimme nur mit einiger Mühe wieder. »Eine Tatsache, die deine Vorfahren, Lady, zu ihrem Nutzen und zu unserem Schaden eingesetzt haben.«
»Wie das?« Nun runzelte die Magusch die Stirn, und Hellorin spürte einen Stich des Bedauerns darüber, daß die Bitterkeiten lange vergangener Zeiten ihre Übereinstimmung zerstörten. Er seufzte.
»Lady, vergiß, daß ich überhaupt etwas gesagt habe. Welchen Nutzen könnte es für uns haben, bei den Streitigkeiten und Ungerechtigkeiten der Vergangenheit zu verweilen?«
»Ich will es wissen!« brauste Eilin auf; dann wurde ihr Gesichtsausdruck plötzlich wieder weicher. »Wenn die Vorfahren der Magusch euch Unrecht getan haben, dann können nur ihre Nachkommen das wiedergutmachen. Und da ich im Augenblick die einzige Magusch bin, mit der du sprechen kannst …« Sie sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an, und Hellorin begriff, daß ihr Ärger sich nicht gegen ihn, sondern gegen ihre eigenen, schon lange zu Staub zerfallenen Vorfahren richtete, die sein Volk in ein Gefängnis außerhalb der Welt verbannt hatten. Und so begann er zu sprechen und ihr Dinge zu erzählen, die noch nie ein Phaerie einer Magusch anvertraut hatte. Er erzählte ihr, wie die Welt vor langer Zeit gewesen war, bevor die Artefakte der Hohen Magie geschmiedet worden waren und bevor die Magusch die Oberherrschaft über die älteren Rassen gewonnen hatten, die über die Macht der Alten Magie verfügten.