»Nun, wir kommen hauptsächlich hier in die Festung, um zu lernen, welche Fragen man nicht stellen soll.«
»Aber ihr seid die Beantworter!«
»Erkennen Sie denn noch immer nicht, weshalb wir das Weissagen vervollkommnet haben und es ausüben?«
»Nein…«
»Um zu beweisen, wie sinnlos es ist, die Antwort auf die falsche Frage zu kennen.«
Während wir weiter Seite an Seite unter den dunklen Zweigen des Otherhord-Waldes durch den Regen wanderten, dachte ich geraume Zeit darüber nach. Faxes Gesicht unter der weißen Kapuze wirkte müde und sehr still; sein Licht war erloschen. Und trotzdem hatte ich immer noch tiefe Ehrfurcht vor ihm. Wenn er mich mit seinen klaren, freundlichen, ehrlichen Augen ansah, dann sah er mich aus einer dreizehntausend Jahre alten Tradition heraus an: aus einer Denk- und Lebensform heraus, die so alt, so gefestigt, so umfassend und so einheitlich war, daß sie dem Menschen die Sicherheit, die Autorität, die Ganzheit eines wilden Tieres verlieh, einer fremdartigen Kreatur, die aus ihrer ewigen Gegenwart heraus dem anderen gerade in die Augen blickt…
»Das Leben«, erklang Faxes weiche Stimme in diesem Wald,»basiert auf dem Unbekannten, dem Unvorhergesehenen, dem Unbewiesenen. Unwissen ist die Grundlage allen Denkens. Unbewiesenheit ist die Voraussetzung der Tat. Wenn es bewiesen wäre, daß es keinen Gott gibt, dann gäbe es auch keine Religion. Keine Handdara, keinen Yomesh, keine Herdgötter, nichts. Doch wenn es wiederum bewiesen wäre, daß es einen Gott gibt, dann gäbe es ebenfalls keine Religion… Sagen Sie mir, Genry: was ist bekannt? Was ist gewiß, vorhersagbar^ unvermeidbar… die einzige Tatsache, die Ihre Zukunft — und die meine — betrifft, und die wir mit Bestimmtheit wissen?«
»Daß wir sterben müssen.«
»Sehen Sie? Es gibt also in Wirklichkeit nur eine einzige Frage, die beantwortet werden kann, Genry, und die Antwort darauf kennen wir bereits… Das einzige, was das Leben überhaupt ermöglicht, ist die ständige, unerträgliche Ungewißheit: ist, nicht zu wissen, was als nächstes geschieht.«
SECHSTES KAPITEL
Ein Weg nach Orgoreyn
Der Koch, der immer schon sehr früh ins Haus kam, weckte mich. Ich habe einen festen Schlaf, deswegen mußte er mich kräftig schütteln und mir ins Ohr schreien:»Wachen Sie auf! Wachen Sie auf, Lord Estraven! Ein Läufer vom Haus des Königs ist gekommen!«Endlich begriff ich, was er da rief, erhob mich, noch ganz benommen von Schlaf und dem durchdringenden Geschrei, eilte zur Zimmertür, wo schon der Bote wartete. Und so ging ich, nackt und unwissend wie ein ungeborenes Kind, in mein Exil.
Während ich das Dokument las, das mir der Läufer reichte, sagte ich mir in Gedanken, daß ich zwar so etwas erwartet hatte, doch immerhin nicht so schnell. Als ich dann aber zusehen mußte, wie der Mann das verdammte Dokument an meine Haustür nagelte, da hatte ich das Gefühl, er könne die Nägel ebensogut in meine Stirn schlagen. Ich mußte mich abwenden und stand da, bleich, hilflos und völlig vernichtet von einem Schmerz, auf den ich nicht gefaßt gewesen war.
Nachdem dieser erste Schock abgeklungen war, erledigte ich, was erledigt werden mußte, und hatte, als die Gongs die neunte Stunde schlugen, das Palastgelände verlassen. Was meinen Besitz und mein Bankkonto betraf, so war es unmöglich für mich, zu Bargeld zu kommen, ohne die Männer, mit denen ich deswegen verhandeln mußte, zu gefährden, und je treuere Freunde sie mir waren, desto größer war die Gefahr, in der sie schwebten. Ich schrieb meinem alten Kemmerin Ashe und teilte ihm mit, auf welche Weise er den Erlös gewisser Wertgegenstände in seinen Besitz bringen und für unseren Sohn bewahren konnte, bat ihn aber, mir kein Geld zu schicken, denn Tibe lasse mit Sicherheit die Grenze bewachen. Unterschreiben konnte ich den Brief nicht. Mit jemandem zu telefonieren, bedeutete, den Empfänger des Anrufs ins Gefängnis schicken, und meine Eile, den Palast zu verlassen, sollte unter anderem verhindern, daß mich etwa ein Freund, der von nichts wußte, in aller Unschuld besuchen kam und dann, als Lohn für seine Freundschaft, sein Geld und seine Freiheit verlor.
Ich machte mich, quer durch die Stadt, nach Westen auf. An einer Kreuzung blieb ich stehen und dachte mir: Warum soll ich nicht über die Berge und Ebenen nach Osten, nach Kermland gehen und so, ein armer Wanderer, in meine Heimat Estre zurückkehren, in jenes Steinhaus am kargen Berghang, wo ich geboren bin? Warum nicht nach Hause gehen? Drei- oder viermal blieb ich stehen und sah zurück. Und jedesmal entdeckte ich unter den gleichgültigen Passantengesichtern eines, das sehr wohl einem Spion gehören konnte, der darüber wachen sollte, daß ich Erhenrang auch wirklich verließ, und jedesmal dachte ich daran, wie töricht es wäre, heimkehren zu wollen. Genausogut konnte ich mich gleich umbringen. Ich war anscheinend zu einem Leben im Exil geboren, und die einzige Möglichkeit, heimzukommen, war durch den Tod. Darum wandte ich mich endgültig nach Westen und blickte von da an nicht mehr zurück.
Die drei Tage Galgenfrist, die ich hatte, würden mich, vorausgesetzt, es kam nichts dazwischen, im Höchstfall fünfundachtzig Meilen weit, bis nach Kuseben am Golf bringen. Den meisten Verbannten ließ man den Ausweisungsbefehl bereits am Abend zuvor ankündigen, damit sie die Möglichkeit hatten, Passage auf einem Schiff den Sess hinunter zu buchen, bevor die Schiffsführer für ihre Hilfeleistung bestraft werden konnten. Doch Tibes Charakter ließ eine derartige Höflichkeit nicht zu. Jetzt würde es kein Schiffsführer mehr wagen, mich mitzunehmen, und da ich den Hafen für Argaven gebaut hatte, war ich dort leider nur allzu bekannt. Mit einem Landboot konnte ich auch nicht fahren, und bis zur Landesgrenze sind es von Erhenrang vierhundert Meilen. Mir blieb keine Wahclass="underline" Ich mußte versuchen, Kuseben zu Fuß zu erreichen.
Der Koch hatte das vorausgesehen. Ich hatte ihn natürlich sofort weggeschickt, doch ehe er ging, hatte er alles Eßbare, das er finden konnte, herausgesucht und für mich als Wegzehrung für meine Dreitageflucht zu einem Paket zusammengeschnürt. Seine Güte war meine Rettung, und sie erhielt mir auch meinen Mut; denn immer, wenn ich unterwegs von den Früchten oder dem Brot aß, sagte ich mir:»Es gibt einen Menschen, der mich nicht für einen Verräter hält, denn er hat mir dies hier gegeben.«
Es war sehr schwer zu ertragen, daß man mich einen Verräter nannte. Merkwürdig, daß das so schwer zu ertragen ist, denn einen anderen so zu nennen, ist doch sehr leicht. Es ist eine Bezeichnung, die haften bleibt, die auf jeden paßt, die jeden überzeugt. Fast war ich schon selbst überzeugt. In der Abenddämmerung des dritten Tages kam ich in Kuseben an — abgekämpft und mit wunden Füßen, weil ich in diesen letzten Jahren in Erhenrang nur Wohlleben und Luxus genossen hatte und meine Kondition für lange Fußmärsche nicht mehr die beste war. Und dort, vor dem Tor der kleinen Stadt, stand Ashe und wartete auf mich.
Sieben Jahre lang waren wir Kemmeringe gewesen und hatten zwei Söhne. Da sie als Fleisch von seinem Fleische geboren waren, trugen sie seinen Namen — Foreth rem ir Osboth — und wuchsen in seinem Clanherd auf. Vor drei Jahren hatte er sich in die Festung Orgny zurückgezogen und trug jetzt die goldene Kette eines Zölibatärs der Weissager. In diesen vergangenen drei Jahren hatten wir einander nicht mehr gesehen, und dennoch spürte ich, als ich sein Gesicht im Zwielicht unter dem Steinbogen erblickte, die alte Vertrautheit unserer Liebe, als sei sie erst gestern zerbrochen. Ich spürte seine unwandelbare Treue, die ihn veranlaßt hatte, hierherzukommen, um meinen Ruin mit mir zu teilen. Und ich spürte, als sich dieses lästige Band wieder um mich legte, Ungeduld und Zorn; denn immer schon hatte Ashes Liebe mich gezwungen, gegen die Stimme meines eigenen Herzens zu handeln.
Schweigend ging ich an ihm vorbei. Wenn ich zu ihm schon grausam sein mußte, dann offen und ehrlich, ohne Freundlichkeit vorzutäuschen.»Therem!«rief er mir nach und folgte mir. Mit raschen Schritten ging ich durch Kusebens steile Straßen zu den Anlegeplätzen hinunter. Vom Meer herüber blies ein Südwind, der in den schwarzen Bäumen der Gärten rauschte, während ich in dieser lauen Sommerdämmerung vor Ashe davonlief, als sei er ein Mörder. Bald hatte er mich eingeholt, denn meine Füße taten so weh, daß ich meine Geschwindigkeit nicht lange aufrechterhalten konnte.»Therem«, sagte er,»ich werde mit dir kommen.«