Ich antwortete nicht.
»Vor zehn Jahren, im selben Monat, Tuwa, haben wir einander geschworen…«
»Und vor drei Jahren hast du den Schwur gebrochen und mich verlassen. Eine sehr kluge Wahl.«
»Ich habe den Eid, den wir uns geschworen haben, niemals gebrochen, Therem.«
»Ganz recht. Weil es keinen Eid zu brechen gab. Es war ein falscher Schwur, ein zweiter Schwur. Du weißt es genau; du wußtest es damals schon. Der einzige Treueeid, den ich jemals geschworen habe, wurde nie ausgesprochen, durfte nicht ausgesprochen werden, und der Mann, dem ich ihn geschworen habe, ist schon seit langem tot. Du schuldest mir nichts, ich schulde dir nichts. Laß mich gehen.«
Noch während ich sprach, kehrten sich meine Wut und Bitterkeit von Ashe ab und gegen mich selbst, gegen mein eigenes Leben, das wie ein gebrochenes Versprechen hinter mir lag. Aber das wußte Ashe nicht. In seinen Augen standen Tränen, als er jetzt sagte:»Bitte, nimm das hier, Therem. Ich schulde dir nichts, aber ich liebe dich.«Er reichte mir ein kleines Päckchen.
»Nein, Ashe. Ich habe Geld. Laß mich gehen. Ich muß allein gehen.«
Ich ging, und er folgte mir nicht. Nur meines Bruders Schatten folgte mir. Es war unklug von mir gewesen, von ihm zu sprechen. Ich hatte in allem unklug gehandelt.
Im Hafen hatte ich kein Glück. Am Kai lag kein einziges Schiff von Orgoreyn, auf dem ich hätte Passage nehmen und somit Karhide, wie es die Vorschrift war, bis Mitternacht verlassen können. Nur wenige Männer waren noch auf den Piers, und diese wenigen hatten es alle eilig, nach Hause zu kommen. Der einzige, den ich fand und ansprach, ein Fischer, der den Motor seines Bootes reparierte, sah mich nur einmal kurz an und drehte mir dann schweigend den Rücken zu. Das weckte plötzlich meine Angst. Der Mann wußte, wer ich war, und das konnte er nur, wenn man ihn informiert hatte. Tibe hatte also seine Söldlinge ausgeschickt, um mir zuvorzukommen und dafür zu sorgen, daß ich in Karhide bleiben mußte, bis meine Zeit abgelaufen war. Bis jetzt hatte ich mich mit Schmerz und Zorn herumgeschlagen, mit Angst noch nicht; nie hätte ich gedacht, daß der Ausweisungsbefehl möglicherweise ein Vorwand für meine Hinrichtung sein könnte. Sobald die sechste Stunde schlug, war ich leichte Beute für Tibes Männer, und niemand konnte behaupten, es wäre Mord, denn es wurde ja nur der Gerechtigkeit Genüge getan.
Ich setzte mich im windigen, dunklen Hafen auf einen Ballast-Sandsack. Die Wellen schlugen klatschend und schmatzend an die Spundwand, Fischerboote zerrten an ihrer Vertäuung und draußen, am Ende der langen Pier, brannte eine Laterne. Ich saß und starrte auf den Lichtpunkt, starrte an ihm vorbei auf das dunkle Meer hinaus. Manche Menschen sind unmittelbar drohender Gefahr gewachsen — ich nicht. Meine Stärke ist das Planen für die Zukunft. Auge in Auge mit der Gefahr benehme ich mich wie ein Idiot, hocke auf einem Sandsack und überlege, ob man nach Orgoreyn hinüberschwimmen kann. Das Eis des Charsunegolfs ist schon seit ein bis zwei Monaten getaut; man könnte eine Zeitlang im Wasser am Leben bleiben. Zur Küste von Orgoreyn sind es einhundertfünfzig Meilen von hier, und ich kann nicht schwimmen. Ich wandte mich vom Wasser ab, und als ich Kusebens Straßen entlangblickte, merkte ich plötzlich, daß ich in der Hoffnung, er möge mir noch immer folgen, nach Ashe Ausschau hielt. Da riß mich die Scham aus der lähmenden Benommenheit, und ich vermochte wieder logisch zu denken.
Wenn ich mit dem Fischer, der im inneren Dock noch immer mit seinem Boot beschäftigt war, einen Handel abschließen wollte, konnte ich nur zu Bestechung oder Gewalt Zuflucht nehmen: ein defekter Motor jedoch war diese Mühe auf keinen Fall wert. Also Diebstahl. Aber die Motoren der Fischereifahrzeuge sind gesichert. Einen unterbrochenen Stromkreis zu überbrücken, den Motor anzulassen, das Boot unter den Pierlaternen aus dem Dock und nach Orgoreyn zu steuern, war für mich, der ich noch niemals ein Motorboot gesteuert hatte, eindeutig ein törichtes, verzweifeltes Unternehmen. Nein, ein Motorboot hatte ich noch nie gefahren, aber gerudert auf dem Eisfußsee in Kerm hatte ich einmal! Und da, im äußeren Dock, war zwischen zwei Barkassen ein Ruderboot festgemacht. Kaum entdeckt, schon gestohlen. Im hellen Laternenschein lief ich auf die Pier hinaus, sprang ins Boot, löste die Vorleine, legte die Riemen aus und ruderte auf das steigende Wasser des Hafens hinaus, wo die Lichter auf den schwarzen Wellen hüpften und glitzerten. Als ich ein gutes Stück vom Ufer entfernt war, machte ich halt, um die Dolle des einen Riemens zu richten, denn er ließ sich nur schwer bewegen, und ich hatte, auch wenn ich hoffte, am nächsten Tag von einer Orgota-Patrouille oder einem Fischer aufgelesen zu werden, ein gutes Stück weit zu rudern. Gerade, als ich mich zu der Dolle hinunterbückte, packte mich plötzlich am ganzen Körper eine Schwäche. Ich fürchtete, ohnmächtig zu werden, und ließ mich hilflos auf die Ruderbank sinken. Es war die Feigheit, die mich mit Übelkeit übermannte. Ich hatte nicht gewußt, daß mir die Feigheit so schwer im Magen lag. Als ich den Kopf hob und über die Wasserfläche blickte, sah ich im fernen Schein der elektrischen Lampen zwei schwarze Gestalten am Ende der Pier stehen, und plötzlich wußte ich, daß meine Lähmung keine Folge der Angst war, sondern die Auswirkung eines Gewehrschusses aus extremer Entfernung.
Ich sah ganz deutlich, daß einer der beiden ein Streitgewehr in den Händen hielt, und wäre Mitternacht schon vorüber gewesen, hätte er vermutlich damit auf mich geschossen und mich getötet; aber die Streitgewehre machen viel Lärm, und dafür wäre eine Erklärung nötig gewesen. Darum hatten sie ein Schallgewehr benutzt. Mit Lähmungseinstellung kann ein Schallgewehr sein Resonanzfeld nur in einem Radius von ungefähr dreißig Metern zur Wirkung bringen. Wie groß die Schußweite bei Tötungseinstellung ist, weiß ich nicht, aber weit darüber hinaus konnte ich nicht sein, denn ich krümmte mich wie ein Kind, das Bauchschmerzen hat. Das Atmen wurde mir schwer, denn das abgeschwächte Feld hatte mich in die Brust getroffen. Nicht lange, und sie würden ein Motorboot haben, herauskommen und mich erledigen; ich durfte also keine Zeit mehr verlieren und konnte es mir nicht leisten, keuchend über meinen Riemen zu hängen. Hinter mir, vor dem Bug meines Bootes, lag tiefe Dunkelheit. In diese Dunkelheit mußte ich hineinrudern. Ich ruderte mit kraftlosen Armen und ohne den Blick von meinen Händen zu nehmen: Ich mußte mich vergewissern, daß meine Finger fest um die Holme lagen, denn fühlen konnte ich nichts. So kam ich allmählich in rauhes Wasser, in die Dunkelheit, in den offenen Golf hinaus. Hier mußte ich anhalten. Mit jedem Riemenschlag verstärkte sich die Taubheit in meinen Armen. Mein Herz wollte nicht mehr mitmachen, und meine Lungen hatten vergessen, wie man Luft holt. Ich gab mir alle Mühe, weiterzurudern, aber ich konnte nicht sagen, ob meine Arme dem Befehl gehorchten. Nun versuchte ich, die Riemen einzuziehen, schaffte es aber nicht. Als mich dann der Suchscheinwerfer einer Hafenpatrouille aus der Nacht hob wie eine Schneeflocke auf Ruß, konnte ich nicht einmal den Blick von dem gleißenden Licht abwenden.
Sie machten meine verkrampften Hände von den Holmen los, zogen mich aus dem Boot und legten mich lang auf das Deck des Patrouillenbootes. Ich merkte, wie sie mich betrachteten, konnte aber nicht genau verstehen, was sie sagten. Nur einen, nach seinem Ton zu urteilen, der Schiffsführer, verstand ich. Er sagte:»Es ist noch nicht die sechste Stunde.«Und dann, auf die Frage eines anderen:»Was geht das mich an? Der König hat ihn verbannt, also werde ich ausschließlich die Befehle des Königs befolgen. Des Königs und keines anderen.«