Der Mann — ich muß ›der Mann‹ sagen, da ich zuvor ja schon ›er‹ und ›sein‹ gesagt habe — der Mann wischt sich den Schweiß von der dunklen Stirn und antwortet:»In alter Zeit wurde der Schlußstein immer mit einem Mörtel aus gemahlenen Knochen und Blut verstrichen. Aus menschlichen Knochen und menschlichem Blut. Denn sehen Sie, ohne die Blutbindung würde der Bogen einstürzen. Heutzutage nehmen wir Tierblut.«
So spricht er häufig — offen, und dennoch vorsichtig, ironisch, als wäre er sich ständig der Tatsache bewußt, daß ich als Fremder sehe und urteile: ein überaus seltenes Verhalten bei einem Menschen, der einer so isolierten Rasse angehört und einen so hohen Rang bekleidet. Er ist einer der mächtigsten Männer des Landes; über das historische Äquivalent seiner Position bin ich mir nicht ganz im klaren: Wesir, Premierminister oder Kanzler. Das karhidische Wort dafür bedeutet ›Ohr des Königs‹. Er ist Herr einer Domäne und Lord des Reiches, ein Urheber bedeutender Ereignisse. Sein Name lautet Therem Harth rem ir Estraven.
Inzwischen scheint der König mit seiner Maurerarbeit fertig geworden zu sein, und ich bin froh. Er klettert jedoch auf dem spinnwebgleichen Plankengerüst unter dem Bogen hindurch und beginnt an der anderen Seite des Schlußsteines zu hantieren, der letzten Endes ja zwei Seiten hat. In Karhide darf man nicht ungeduldig sein. Die Menschen hier sind zwar alles andere als phlegmatisch, aber sie sind hartnäckig, sie sind ausdauernd, sie bringen das Ausmörteln von Steinfugen zu Ende. Das Volk am Ufer des Sees sieht gern zu, wie sein König arbeitet, ich aber langweile mich, mir ist es heiß. Bislang ist mir auf Winter noch nie heiß gewesen, und es wird mir auch nie wieder heiß werden; trotzdem kann ich diese Tatsache nicht recht genießen. Ich bin für die Eiszeit gekleidet, und nicht für Sonnenschein. Ich trage zahllose Kleiderschichten aus gewebten Pflanzenfasern, Kunstfasern, Pelzen, Leder — eine schwere Rüstung gegen die Kälte, in der ich jetzt jedoch dahinwelke wie ein Salatblatt. Um mich ein wenig abzulenken, betrachte ich die Menge der Neugierigen und die anderen Teilnehmer des Festzuges, die sich um die Plattform drängen. Ihre Domänen- und Clanbanner hängen schlaff und bunt im Sonnenlicht, und ich erkundige mich bei Estraven, welches Banner dieses ist, und jenes, und das da drüben. Er kennt jedes einzelne, nach dem ich ihn frage, obwohl hier Hunderte versammelt sind, darunter einige von weit entfernten Domänen, Herden und Stämmen der Pering- Sturm-Grenze und des Kerm-Landes.
»Ich komme selbst aus dem Kerm-Land«, erklärt er, als ich sein Wissen bewundere.»Außerdem gehört es zu meinen Pflichten, alle Domänen zu kennen. Sie sind Karhide. Will man dieses Land regieren, so muß man seine Herren regieren. Das ist allerdings noch nie geschehen. Kennen Sie das Sprichwort: ›Karhide ist keine Nation, sondern ein Familienstreit‹?«Ich kenne es nicht und hege den Verdacht, daß Estraven es sich ausgedacht hat. Es trägt seinen Stempel.
In diesem Augenblick drängt und schiebt sich ein Mitglied der kyorremy, der Oberkammer oder des Parlamentes, dem Estraven vorsteht, zu ihm durch und beginnt auf ihn einzureden. Es ist der Vetter des Königs, Pemmer Harge rem ir Tibe. Er spricht mit sehr leiser Stimme zu Estraven, seine Haltung ist ein wenig anmaßend, er lächelt häufig. Estraven, der so stark schwitzt wie Eis in der Sonne, bleibt ruhig und kalt wie Eis; er beantwortet Tibes Geflüster laut und in einem Ton, dessen nüchterne Höflichkeit den anderen wie einen Narren dastehen läßt. Ich lausche, während ich dem König beim Mörteln zusehe, verstehe aber nichts außer der Feindseligkeit, die zwischen Tibe und Estraven herrscht. Die Angelegenheit geht mich aber ohnehin nichts an; ich interessiere mich lediglich für das Verhalten dieser Menschen, die ein Volk regieren, und zwar im altmodischen Sinne regieren, die das Schicksal von zwanzig Millionen Menschen lenken. Die Macht, wie sie von der Ökumene ausgeübt wird, ist so subtil und komplex, daß nur ein subtiler Verstand sie zu erkennen vermag. Hier aber ist sie noch immer begrenzt, ist sie noch immer deutlich zu sehen. Bei Estraven, zum Beispiel, hat man das Gefühl, daß die Macht seinen Charakter intensiviert; er kann niemals eine leere Geste machen oder ein Wort sagen, das nicht gehört wird. Das weiß er, und dieses Wissen verleiht ihm mehr Realität als den meisten Menschen: Festigkeit, Substanz, menschliche Größe. Nichts gibt es, das so erfolgreich wäre wie der Erfolg. Ich traue Estraven nicht, denn seine Motive bleiben immer im Dunkeln; ich mag ihn nicht. Aber ich spüre seine Autorität und reagiere auf sie so gewiß wie auf die Wärme der Sonnenstrahlen.
Noch während ich dies denke, verdunkeln Wolken die Sonne, und kurz darauf zieht ein dünner, aber harter Regenschauer den Fluß herauf, durchnäßt die Menschen auf der Uferstraße und trübt den Himmel. Als der König die Laufplanke herunterkommt, bricht die Sonne zum letztenmal durch, so daß sich die weiße Gestalt und der große Bogen einen Augenblick klar und herrlich von dem gewitterdunklen Südhimmel abheben. Dann schließen sich die Wolken endgültig. Ein kalter Wind bläst die Hafen-Palaststraße herauf, der Fluß färbt sich bleigrau, die Bäume am Ufer werden geschüttelt. Der Festzug ist vorüber. Eine halbe Stunde später begann es zu schneien.
Als der Wagen des Königs die Hafen-Palaststraße hinauf davonfuhr und Bewegung in die Menschenmenge kam, wandte sich Estraven abermals an mich und sagte:»Würden Sie heute abend mit mir essen, Mr. Ai?«Eher überrascht als erfreut, nahm ich die Einladung an. Estraven hatte in den vergangenen sechs oder acht Monaten eine Menge für mich getan, ein derartiges Zeichen persönlicher Gunst hatte ich jedoch weder erwartet noch erhofft. Harge rem ir Tibe war immer noch in unserer Nähe und hörte uns zu, und ich hatte das Gefühl, daß er unser Gespräch hören sollte. Verärgert über diese Neigung zu weibischer Intrige stieg ich von der Plattform und verlor mich in der Menge, wobei ich mich allerdings des öfteren ducken mußte. Ich bin zwar nicht viel größer als der Durchschnitts-Gethenianer, doch unter sehr vielen Menschen fällt der geringe Unterschied am stärksten auf. ›Das ist er, seht ihr? Das ist der Gesandte!‹ Gewiß, auch das gehörte zu meiner Aufgabe, aber je weiter die Zeit fortschritt, desto schwieriger wurde es für mich; immer häufiger sehnte ich mich nach Anonymität, nach Gleichheit mit anderen. Ich sehnte mich zutiefst danach, so zu sein wie meine Mitmenschen.
Zwei Blocks weiter die Brauereistraße hinauf bog ich ab zu meinem Quartier und merkte plötzlich, als sich die vielen Menschen allmählich verliefen, daß Tibe an meiner Seite ging.
»Eine perfekte Feier«, sagte der Vetter des Königs lächelnd. Er zeigte dabei seine langen, sauberen, gelben Zähne, die, obwohl er kein alter Mann war, in einem über und über von feinen Runzeln durchzogenen, gelben Gesicht standen.
»Ein gutes Vorzeichen für die Zukunft des neuen Hafens«, entgegnete ich.
»In der Tat.«Wieder die Zähne.
»Diese Schlußsteinsetzung ist eine überaus eindrucksvolle Zeremonie…«
»In der Tat. Eine Zeremonie, die uns aus alter Zeit überkommen ist. Doch das hat Lord Estraven Ihnen gewiß schon erklärt.«
»Lord Estraven ist sehr liebenswürdig.«
Ich versuchte, in meinen Antworten möglichst neutral zu bleiben, doch alles, was ich zu Tibe sagte, schien eine Doppelbedeutung anzunehmen.
»O ja, in der Tat!«bestätigte Tibe.»Lord Estraven ist in der Tat berühmt für seine Freundlichkeit Fremden gegenüber.«Er lächelte abermals, und jeder Zahn schien eine doppelte, vielfältige, zweiunddreißigfache Bedeutung zu haben.