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Die anderen starrten ihn mit mürrischer Neugier an; sie wußten, daß er ein reicher Mann war; daß er ein Commensal war, wußten sie jedoch nicht. Mir paßte es nicht, daß er persönlich gekommen war; er hätte einen anderen schicken sollen. Nur sehr wenige Orgota haben ein Gefühl für Takt. Ich wollte ihn möglichst schnell hier hinausschaffen. Mit meinem Hemd konnte ich, naß wie es war, nichts anfangen; darum sagte ich einem herdlosen Burschen, der sich im Hof herumtrieb, er könne es tragen, bis ich zurückkäme. Meine Schulden und die Miete waren bezahlt, meine Papiere steckten in meiner hieb-Tasche. Ohne ein Hemd am Leib verließ ich die Insel am Markt und kehrte mit Yegey in die Häuser der Mächtigen zurück.

Als sein ›Sekretär‹ wurde ich in den Büchern von Orgoreyn neu registriert — diesesmal nicht als Digital, sondern als Dependant. Namen genügen hier nicht, sie müssen den Menschen Etiketten aufkleben, an denen man die Marke erkennt, bevor man den Inhalt sieht. In meinem Fall jedoch paßte diese Markenbezeichnung genau: Ich war im wahrsten Sinne des Wortes abhängig und lernte schon bald die Absicht verfluchen, die mich veranlaßt hatte, eines anderen Mannes Brot zu essen. Denn auch nach einem ganzen Monat gab es noch immer nicht das geringste Zeichen dafür, daß ich meinem Ziel nähergekommen war als zu der Zeit, da ich in der Fischinsel gelebt hatte.

Am regnerischen Abend des letzten Sommertags ließ mich Yegey in sein Arbeitszimmer rufen, wo ich ihn im Gespräch mit dem Commensal des Sekeve-Bezirks fand. Ich kannte Obsle aus der Zeit, da er die Orgota-Schiffshandelskommission in Erhenrang geleitet hatte. Klein, krummrückig, mit schmalen, dreieckigen Augen in einem fetten, flachen Gesicht, bildete er einen merkwürdigen Gegensatz zu Yegey, der sehr feingliedrig, fast dürr wirkte. Die Vogelscheuche und der Frosch hätte man sie nennen können, aber sie waren in Wirklichkeit weit mehr. Sie waren zwei jener dreiunddreißig, die Orgoreyn regieren, und waren dennoch wiederum mehr.

Höflichkeiten wurden ausgetauscht, ein Schluck Sithisches Lebenswasser getrunken. Dann seufzte Obsle und sagte zu mir:»Bitte, Estraven, erklären Sie mir, warum Sie das taten, was Sie in Sassinoth getan haben. Denn wenn es jemals einen Mann gab, der in meinen Augen ein unbeirrbares Gefühl für die zeitliche Abstimmung eines Planes und das Abwägen von shifgrethor hat, dann waren Sie dieser Mann.«

»Die Angst in mir siegte über die Vorsicht, Commensal.«

»Angst? Wovor, zum Teufel noch mal? Wovor fürchten Sie sich, Estraven?«

»Vor dem, was jetzt gerade geschieht. Vor der Fortsetzung des Prestigekampfes im Sinoth-Tal; vor der Demütigung Karhides und dem Zorn, der aus dieser Demütigung entsteht; vor der Wahrscheinlichkeit, daß Karhides Regierung diesen Zorn ausnutzt.«

»Ausnutzt? Wozu?«

Obsle hat keine Manieren, deswegen kam Yegey, empfindsam und bissig, mir zu Hilfe.»Verzeihung, Commensal, Lord Estraven ist mein Gast und nicht verpflichtet, sich einem Verhör zu unterziehen…«

»Lord Estraven wird, wie er es immer getan hat, alle Fragen beantworten, wann und wie er es für richtig hält«, entgegnete Obsle grinsend, wie eine Nadel, die unter einem Berg Schmalz vergraben ist.»Er weiß, daß er sich hier unter Freunden befindet.«

»Ich nehme meine Freunde, wo ich sie finde, Commensal. Aber ich habe es aufgegeben, sie lange zu halten.«

»Das sehe ich. Aber wir können doch gemeinsam einen Schlitten ziehen, ohne gleich Kemmeringe zu sein, wie wir in Eskeve sagen — wie? Zum Teufel, ich weiß genau, weshalb man Sie verbannt hat, mein Lieber: weil Sie Karhide mehr lieben als seinen König.«

»Eigentlich eher, weil ich den König mehr liebe als seinen Vetter.«

»Oder weil er Karhide mehr liebt als Orgoreyn«, konterte Yegey.»Irre ich mich, Lord Estraven?«

»Nein, Commensal.«

»Dann sind Sie der Ansicht, daß Tibe Karhide genauso regieren möchte wie wir Orgoreyn — hart und wirksam?«

»Jawohl. Ich bin der Ansicht, daß Tibe, mit dem Streit um das Sinoth-Tal als Antriebs Stachel, den er nach Belieben zuspitzt, innerhalb eines Jahres eine größere Veränderung in Karhide bewirken kann, als das Land in den vergangenen tausend Jahren durchgemacht hat. Er hat ein Vorbild, dem er nacheifern kann: den Sarf. Und er weiß Argavens Angstgefühle zu dirigieren. Das ist weit einfacher als jeder Versuch, Argavens Mut zu wecken, wie ich es vorgehabt hatte. Wenn Tibe Erfolg hat, dann werden Sie, meine Herren, feststellen, daß Sie einen Feind vor sich haben, der Ihnen ebenbürtig ist.«

Obsle nickte.»Ich verzichte auf shifgrethor«, sagte Yegey.»Worauf wollen Sie hinaus, Estraven?«

»Auf folgendes: Ist auf dem großen Kontinent Platz für zwei Orgoreyns?«

»Ja, ja, ja, ja! Ganz meine Meinung!«bestätigte Obsle.»Dieselbe Frage, die ich mir stelle. Sie, Estraven, haben sie mir vor langer Zeit schon in den Kopf gesetzt, und es gelingt mir nicht, sie wieder loszuwerden. Unser Schatten wird zu lang. Er wird auch Karhide bedecken. Eine Fehde zwischen zwei Clans — ja; ein Streit zwischen zwei Städten — ja, eine Grenzauseinandersetzung, ein paar Scheunen, die niedergebrannt werden, ein paar Morde — ja. Aber eine Fehde zwischen zwei Nationen? Ein Streit, der fünfzig Millionen Menschen einbezieht? Bei Meshes süßer Milch, das ist eine Vorstellung, die mir den Schlaf schon vieler Nächte verbrannt hat, so daß ich schwitzend aufgewacht bin… Wir sind in Gefahr! Wir sind in Gefahr, und Sie wissen es, Yegey. Sie haben es, auf Ihre eigene Art, schon oft genug ausgesprochen.«

»Ich habe jetzt dreizehnmal gegen ein Forcieren des Streits um das Sinoth-Tal gestimmt. Und was hat es genützt? Nichts! Der Dominationspartei stehen auf Abruf zwanzig Stimmen zur Verfügung, und jede Maßnahme von Tibes Seite verstärkt die Macht, die der Sarf auf diese zwanzig ausübt. Er läßt einen Zaun quer durch das Tal errichten, stellt Wachen am Zaun entlang auf, die mit Streitgewehren bewaffnet sind — mit Streitgewehren! Man stelle sich das vor! Ich dachte, die gäbe es nur noch im Museum. Er bietet der Dominationspartei eine Herausforderung, wann immer sie eine braucht.«

»Und macht auf diese Weise Orgoreyn stärker. Aber gleichzeitig auch Karhide. Jede einzelne eurer Reaktionen auf seine Provokationen, jede Demütigung, die ihr Karhide zufügt, jeder Prestigegewinn auf eurer Seite dient nur dazu, Karhide stärker zu machen — so lange, bis es euch ebenbürtig ist, bis es, genau wie Orgoreyn, von einer Zentrale aus regiert wird. Und in Karhide gibt es die Streitgewehre nicht nur in den Museen: Die Leibgarde des Königs ist damit ausgerüstet.«

Yegey schenkte noch einmal Lebenswasser ein. Orgota- Edelleute trinken dieses kostbare Feuer, das über fünftausend Meilen nebliger Meere von Sith herübergebracht wird, als wäre es Bier. Obsle wischte sich den Mund und kniff die Augen zusammen.

»Nun gut«, sagte er,»all das ist genau das, wie ich es sehe. Und ich bin der Ansicht, daß wir einen Schlitten zusammen zu ziehen haben. Aber ich habe noch eine Frage, ehe wir uns ins Geschirr begeben, Estraven. Sie haben mir die Kapuze ganz über die Augen heruntergezogen. Sagen Sie mir eines ganz offen: Was sollte diese ganze Verdunkelungskampagne, diese Vernebelung und dieser Unsinn über einen Gesandten von der anderen Seite des Mondes?«

Also hatte Genly Ai um Einreiseerlaubnis nach Orgoreyn gebeten.

»Der Gesandte? Er ist genau das, was er behauptet.«

»Und das wäre?«

»Der Gesandte einer anderen Welt.«

»Bitte, verschonen Sie mich mit Ihren verdammten nebelhaften karhidischen Metaphern, Estraven! Ich pfeife auf shifgrethor, das ist jetzt nebensächlich. Würden Sie mir also die Frage beantworten?«

»Das habe ich getan.«

»Ist er ein fremdes Wesen?«fragte Obsle und riß seine kleinen Augen auf. Und Yegey ergänzte:»Hat man ihm wirklich eine Audienz bei König Argaven gewährt?«