Ich bejahte beides. Minutenlang schwiegen beide, dann fingen sie, ohne den geringsten Versuch, ihr Interesse zu kaschieren, gleichzeitig an zu sprechen. Yegey wollte noch Umschweife machen, Obsle dagegen kam gleich zur Sache.»Was für eine Position nahm er in Ihren Plänen ein? Anscheinend hatten Sie sich doch auf ihn gestützt, sind aber gestolpert. Warum?«
»Weil Tibe mir ein Bein gestellt hat. Ich habe nach den Sternen geschaut und nicht auf den Dreck geachtet, durch den ich zu waten hatte.«
»Seit wann beschäftigen Sie sich mit Astronomie, mein Guter?«
»Wir sollten uns am besten alle mit Astronomie beschäftigen, Obsle.«
»Stellt dieser Gesandte eine Gefahr für uns dar?«
»Ich glaube nicht. Er bringt uns von seinem Volk nur Angebote für Kommunikation, Handel, Verträge und Bündnisse, sonst nichts. Er kam allein, ohne Waffen, ohne Verteidigungsmöglichkeit, nur mit einem Kommunikationsgerät und seinem Schiff, das wir bis ins Kleinste untersuchen durften. Nach meiner Meinung haben wir von ihm nichts zu befürchten. Und dennoch bringt er uns in seinen leeren Händen das Ende von Königreich und Commensalitäten.«
»Wieso?«
»Wie können wir mit Fremden verhandeln, wenn wir es nicht als Brüder tun? Wie kann Gethen mit einer Union von achtzig Welten verhandeln, wenn nicht selbst auch als eine Welt?«
»Achtzig Welten?«echote Yegey, nervös lachend. Obsle warf mir einen schrägen Blick zu.»Ich würde lieber daran glauben, daß Sie zu lange bei diesem Verrückten im Palast gewesen und selber verrückt geworden sind… Beim Namen Meshes! Was soll dieses Gerede von Allianzen mit den Sonnen und Bündnissen mit dem Mond? Wie kam dieser Bursche überhaupt hierher? Ist er auf einem Kometen geritten? Auf einem Meteor? Sie sagen, mit einem Schiff. Mit einem Schiff, das in der Luft schwebt? Im leeren Raum? Doch leider sind Sie jetzt nicht verrückter als sonst, Estraven, womit ich sagen will, gerissen verrückt, klug und weise verrückt. Alle Karhider sind wahnsinnig. Fahren Sie fort, Lord Estraven, ich folge. Nur weiter!«
»Ich wüßte nicht, wohin, Obsle. Was könnte mein Ziel sein? Sie aber könnten eines Tages an ein Ziel gelangen. Wenn Sie dem Gesandten nur ein kleines Stück folgen, könnte er Ihnen einen Ausweg aus dem Sinoth-Tal zeigen, aus dem bösen Kreislauf, in dem wir gefangen sind.«
»Ausgezeichnet. Ich werde mich also in meinem Alter mit Astronomie beschäftigen. Doch wohin wird mich das führen?«
»Zur Größe — falls Sie sich klüger verhalten als ich. Meine Herren, ich war lange und oft mit diesem Gesandten beisammen, ich habe sein Schiff gesehen, das durch den leeren Raum gekommen ist, und weiß, daß er wirklich und wahrhaftig ein Bote von außerhalb dieser Welt ist. Was nun die Aufrichtigkeit seiner Botschaft und die Wahrheit seiner Beschreibungen dieser fremden Welten betrifft, so ist es unmöglich, sie zu beurteilen. Und ihn persönlich kann man nur so beurteilen, wie man jeden anderen Mann auch beurteilen würde; wäre er einer von uns, würde ich ihn als Ehrenmann bezeichnen. Aber das werden Sie vermutlich selbst entscheiden können. Soviel allerdings ist sicher: In seiner Gegenwart sind Striche, die auf der Erde gezogen wurden, keine Grenzen und keine Verteidigungslinien. An Orgoreyns Schwelle wartet eine größere Herausforderung als Karhide. Und die Männer, die diese Herausforderung annehmen, die Männer, die als erste die Türen dieses Planeten öffnen — sie werden unser aller Führer sein: die Führer der drei Kontinente, der ganzen Welt. Unsere Grenze ist jetzt nicht mehr eine Linie zwischen zwei Bergen, sondern die Linie, die unser Planet zieht, wenn er die Sonne umkreist. Unseren shifgrethor auf eine geringere Chance zu setzen, wäre in der jetzigen Situation eine Torheit.«
Yegey hatte ich überzeugt, doch Obsle saß tief in seine Fettmassen versunken und musterte mich aufmerksam mit seinen kleinen Augen.»Um das zu glauben, braucht man einen Monat«, erklärte er.»Und wenn es von einem anderen käme als von Ihnen, Estraven, würde ich es für einen Witz halten, ein Fangnetz für unseren Stolz, aus Sternenglanz geknüpft. Aber ich kenne Sie; Sie haben einen steifen Nacken. Zu steif, als daß Sie sich nur um uns zu narren, zu einer mutmaßlichen Würdelosigkeit herablassen. Ich kann nicht glauben, daß Sie die Wahrheit sagen, und dennoch weiß ich, daß Sie an einer Lüge ersticken würden… Nun gut. Wird er mit uns so sprechen, wie er anscheinend mit Ihnen gesprochen hat?«
»Das will er ja: sprechen, damit er gehört wird. Dort oder hier. Tibe wird ihn zum Schweigen bringen, sobald er noch einmal versucht, in Karhide zu sprechen. Ich habe Angst um ihn; er scheint überhaupt nicht zu begreifen, in welcher Gefahr er schwebt.«
»Würden Sie uns sagen, was Sie wissen?«
»Das werde ich. Aber warum soll er nicht herkommen und es Ihnen selber sagen?«
Yegey, der behutsam an einem Fingernagel knabberte, erwiderte:»Ich wüßte nichts, was dagegen spricht. Er hat um Einreiseerlaubnis in die Commensalität gebeten. Karhide erhebt keinen Widerspruch. Sein Gesuch wird in Erwägung gezogen…«
SIEBENTES KAPITEL
Die Sexualfrage
Aus den Aufzeichnungen Ong Tot Oppongs, Investigator der ersten ökumenischen Landegruppe auf Gethen/Winter Zyklus 33 Ö. J. 1448.
1448, Tag 81. Es ist anzunehmen, daß sie ein Experiment waren. Ein unangenehmer Gedanke. Doch nun, da es Beweise gibt, die darauf hindeuten, daß die terrestrische Kolonie ein Experiment war, bei dem man eine Normalgruppe von Hain auf eine Welt mit eigenen protohominiden Autochthonen verpflanzt hat, darf man diese Möglichkeit nicht außer acht lassen. Feststeht, daß die Kolonisatoren humangenetische Manipulationen vorgenommen haben; anders wären die hilfs von S oder die degenerierten, geflügelten Hominiden von Rokanan nicht zu erklären. Könnte man die sexuelle Physiologie von Gethen anders erklären? Mit Zufall? Möglicherweise. Mit natürlicher Auslese kaum. Ihre Ambisexualität hat nur geringen oder gar keinen Adaptivwert.
Warum aber wurde eine so rauhe Welt für ein Experiment bestimmt? Keine Antwort. Tinibossol meint, daß die Kolonie während einer größeren Zwischeneiszeit gegründet wurde. So könnten die Umweltbedingungen während der ersten vierzig- bis fünfzigtausend Jahre hier verhältnismäßig mild gewesen sein. Als dann das Eis wieder vorrückte, zog sich Hain endgültig zurück, brach das Experiment ab und überließ die Kolonisten ihrem Schicksal.
Ich stelle Theorien über das Entstehen der Sexualphysiologie der Gethenianer auf, aber was weiß ich eigentlich darüber? Otie Nims Meldungen aus der Orgoreyn-Region haben einige meiner früheren falschen Annahmen korrigiert. Ich werde zunächst alles niederschreiben, was ich weiß, und dann meine Theorien erläutern. Alles der Reihe nach.
Der Sexualzyklus beträgt durchschnittlich sechsundzwanzig bis achtundzwanzig Tage (gewöhnlich spricht man von sechsundzwanzig Tagen, weil das ungefähr dem Mondzyklus entspricht).
Einundzwanzig bis zweiundzwanzig Tage lang ist der Gethenianer somer, das heißt, sexuell inaktiv, latent. Etwa am achtzehnten Tag werden durch Hypophysensteuerung die hormonalen Veränderungen eingeleitet, und der Gethenianer tritt in das kemmer-Stadium, den Östrus, ein. In dieser ersten Kemmerphase (Karh. secher) bleibt er vollständig androgyn. Geschlecht und Potenz können in der Isolation nicht erreicht werden. Bleibt ein Gethenianer in der ersten Kemmerphase allein, oder kommt er nur mit Gethenianern zusammen, die nicht in Kemmer sind, kann er keinen Koitus vollziehen. Trotzdem ist der sexuelle Impuls in dieser Phase ungeheuer stark, er beherrscht die gesamte Persönlichkeit und unterwirft alle anderen Triebe seinen Forderungen. Wenn der Gethenianer einen Partner findet, der ebenfalls in Kemmer ist, wird die Hormonalsekretion weiter stimuliert (hauptsächlich durch Berührung — Sekretion? Geruch?), bis in einem der beiden Partner eine entweder männliche oder eine weibliche hormonelle Dominanz etabliert ist. Die Genitalien füllen sich mit Blut oder schrumpfen, das Vorspiel wird intensiver, und der Partner übernimmt, von der Veränderung ausgelöst, die entgegengesetzte sexuelle Rolle (Ausnahmslos? Sollte es tatsächlich Ausnahmen geben, mit anderen Worten, Kemmer- Partner gleichen Geschlechts, dann sind sie so selten, daß sie ignoriert werden können). Diese zweite Kemmerphase (Karh. thorharmen), der gemeinsame Prozeß des Etablierens von Sexualität und Potenz, findet anscheinend in einer Zeitspanne von zwei bis zwanzig Stunden statt. Steht einer der Partner bereits in voller Kemmer, fällt die Phase für den neu hinzugekommenen Partner notgedrungen ziemlich kurz aus; treten beide gleichzeitig ins Kemmerstadium ein, wird es mit Sicherheit länger dauern. Normale Gethenianer kennen keine Prädisposition für eine bestimmte sexuelle Rolle in der Kemmerzeit; sie wissen nicht, ob sie männlich oder weiblich werden, und können die Entwicklung auch nicht beeinflussen. (Otie Nim hat geschrieben, daß der Gebrauch hormoneller Derivative zur Erreichung der bevorzugten Sexualrolle in der Region Orgoreyn weit verbreitet ist; im ländlicheren Karhide habe ich diese Praxis nie beobachtet.) Liegt das Geschlecht erst fest, kann es während der Kemmerperiode nicht mehr verändert werden. Die Kulminationsphase der Kemmer (Karh. thokemmer) dauert zwischen zwei und fünf Tagen; in dieser Zeit haben Sexualtrieb und Sexualkapazität ihren Höhepunkt erreicht. Sie endet verhältnismäßig abrupt, und hat keine Konzeption stattgefunden, kehrt der Gethenianer innerhalb weniger Stunden in die Sommerphase zurück (Anm. Otie Nim hält diese ›vierte Phase‹ für das Äquivalent des Menstrualzyklus), und der Zyklus beginnt von neuem. Hatte der Gethenianer die Rolle der Frau übernommen und wurde geschwängert, setzt sich die hormonelle Aktivität natürlich fort, und der Gethenianer bleibt während der 8,4-monatigen Gestationsperiode und der sechs- bis achtmonatigen Stillperiode weiblich. Die männlichen Sexualorgane bleiben in Retraktion (wie in der Somer), die Brüste vergrößern sich ein wenig, und der Beckengürtel erweitert sich. Mit dem Ende der Stillperiode tritt der Gethenianer wieder in die Somer ein und wird wieder zum perfekten Androgynen. Eine physiologische Gewohnheit wird nicht etabliert, so daß die Mutter von mehreren Kindern der Vater von weiteren Abkömmlingen sein kann.