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Ich unterhielt mich häufig und lange mit den Alten in Gorinhering, ebensoviel aber mit den Kindern. Hier hatte ich zum erstenmal Gelegenheit, Gethenianerkinder intensiver zu beobachten, denn in Erhenrang sind sie samt und sonders in privaten oder öffentlichen Herden und Schulen untergebracht. Ein Viertel bis ein Drittel der erwachsenen Stadtbevölkerung ist vollauf mit der Aufzucht und Erziehung der Kinder beschäftigt. Hier dagegen sorgte der Clan selbst dafür; alle und jeder waren verantwortlich für sie. Sie waren ein recht wilder Haufen, der ungezügelt über die nebelverhangenen Hügel und Strände tobte. Wenn es mir gelang, eines von ihnen lange genug festzuhalten, um ernsthaft mit ihm zu sprechen, konnte ich feststellen, daß sie scheu, stolz und überaus vertrauensselig waren.

Der Elterninstinkt variiert auf Gethen genauso stark wie anderswo. Man kann unmöglich verallgemeinern. Nie habe ich gesehen, daß ein Karhider ein Kind schlug, ein einziges mal habe ich erlebt, daß einer wütend ein Kind anschrie. Ihre Liebe zu den Kindern ist tief, zärtlich und beinahe ganz und gar selbstlos. Möglicherweise ist es allein diese Selbstlosigkeit, in der sie sich von dem unterscheidet, was wir als ›mütterlichen‹ Instinkt bezeichnen. Ich selbst vermute, daß der Unterschied zwischen dem mütterlichen und dem väterlichen Instinkt kaum erwähnenswert ist; der Elterninstinkt, der Wunsch, zu beschützen und zu fördern, ist ein Charakteristikum, das nicht an das Geschlecht gebunden ist…

Anfang Hakanna hörten wir in Gorinhering in den von statischem Rauschen untermalten Palastbulletins, daß König Argaven die Geburt eines Erben angekündigt habe. Nicht eines weiteren Kemmering-Sohnes, deren er bereits sieben hatte, sondern eines leiblichen Erben, eines König-Sohnes. Der König war schwanger.

Das fand nicht nur ich komisch, sondern auch die Clanmitglieder von Goringhering, wenn auch aus ganz anderen Gründen. Sie sagten, er sei zu alt, um Kinder zur Welt zu bringen, und ließen sich nicht nur witzig, sondern sogar obszön darüber aus. Die Alten hörten tagelang nicht auf zu kichern. Sie lachten über den König, doch abgesehen davon, interessierten sie sich nicht besonders für ihn. ›Karhide, das sind die Domänen‹, hatte Estraven gesagt, und wie so manches, was Estraven gesagt hatte, kam mir dieser Ausspruch, während ich lernte, immer wieder in den Sinn. Dieses Land, scheinbar eine schon seit Jahrhunderten geeinte Nation, war in Wirklichkeit ein Konglomerat aus unkoordinierten Fürstentümern, Städten, Dörfern, ›pseudo-feudalen, ökonomischen Stammeseinheiten‹, ein zusammengewürfelter Haufen von weit verstreuten, starken, fähigen, streitsüchtigen Einzelexistenzen, über die, lose und unbefestigt, ein lockeres, weitmaschiges Netz von Autorität gelegt worden war. Nichts konnte, nach meiner Auffassung, Karhide jemals zu einer Nation vereinen. Sogar die weite Verbreitung schneller Kommunikationsmittel, die angeblich den Nationalismus befördern soll, hatte das nicht geschafft. Die Ökumene konnte dieses Volk nicht als soziale Einheit, als mobilisierbare Ganzheit ansprechen, sondern sie mußte an seinen starken, wenn auch unentwickelten Sinn für Humanität, für die Einigkeit der Menschheit, appellieren. Erregung packte mich, als ich darüber nachdachte. Aber natürlich täuschte ich mich. Immerhin hatte ich etwas über die Gethenianer gelernt, das sich letztlich als nützlich herausstellen sollte.

Wenn ich nicht das ganze Jahr in Alt-Karhide verbringen wollte, so mußte ich zum West Fall zurückkehren, ehe die Pässe des Kargav zugeschneit waren. Selbst hier an der Küste hatte es in diesem letzten Sommermonat zweimal leichte Schneefälle gegeben. Zögernd nur machte ich mich auf den Weg nach Westen und war Anfang Gor, dem ersten Herbstmonat wieder in Erhenrang. Argaven hatte sich inzwischen in seinen Sommerpalast in Warrever zurückgezogen und Pemmer Harge rem ir Tibe für die Dauer seiner Schwangerschaft zum Regenten ernannt. Und schon hatte Tibe damit begonnen, das Beste aus seiner Regierungszeit herauszuholen. Innerhalb weniger Stunden nach meiner Ankunft erkannte ich den Fehler, den ich bei meiner Analyse von Karhide gemacht hatte — sie war bereits überholt -, und fühlte mich in Erhenrang nicht nur unbehaglich, sondern gefährdet.

Argaven war wahnsinnig; die unheilvolle Unlogik seines Verstandes verdüsterte die Atmosphäre seiner Hauptstadt; er lebte in ständiger Furcht. Alles Positive in seiner Regierungszeit war von den Ministern und der kyorremy gekommen. Er hatte nicht viel Schaden anrichten können. Seine Kämpfe mit den eigenen Alpträumen hatten dem Königreich nicht geschadet. Sein Vetter Tibe dagegen war von einer anderen Art, sein Wahnsinn hatte Methode. Tibe wußte, wann er handeln mußte, und ebensogut wußte er, wie. Das einzige, was er nicht wußte, war, wann er aufhören mußte.

Tibe hielt zahllose Ansprachen im Radio. Das hatte Estraven, als er an der Macht war, nie getan, und es paßte auch nicht zum karhidischen Wesen: In diesem Land wurde normalerweise nicht öffentlich, sondern verborgen und indirekt regiert. Tibe dagegen redete — feierlich und unaufhörlich. Wenn ich im Rundfunk seine Stimme hörte, sah ich in Gedanken sein langzahniges Lächeln und das von einem Netz feiner Fältchen durchzogene Gesicht vor mir. Seine Ansprachen waren endlos und laut: Elogen auf Karhide, Haßtiraden auf Orgoreyn, Verunglimpfungen verräterischem Parteien, Exkurse über die ›Unverletzbarkeit der Grenzen des Königreiches‹, Lektionen über Geschichte, Ethik und Wirtschaft, und alles in einem pathetischen, winselnden, gefühlsschwangeren Tonfall, der sich gelegentlich zu schrillen Keif- oder Schmeicheltönen hob. Er redete immer wieder vom Stolz auf seine Heimat und von der Liebe zu seinem Elternland, doch kaum von shifgrethor, von persönlichem Stolz oder Prestige. Hatte Karhide bei der Sinoth-Tal-Affäre soviel Prestige verloren, daß er dieses Thema nicht aufs Tapet bringen konnte? Nein; denn über das Sinoth-Tal sprach er oft genug. Ich hatte den Eindruck, daß er das Thema shifgrethor absichtlich vermied, weil er weit elementarere, unkontrollierbare Emotionen wecken wollte. Er wollte etwas wachrufen, für das das gesamte shifgrethor-Gefüge eine Verfeinerung, dessen Sublimierung es war. Er wollte seine Zuhörer ängstigen und erzürnen. Nein, seine Themen waren nicht Liebe und Stolz, obgleich er diese Worte ständig im Munde führte; wenn er sie benutzte, bedeuteten sie Selbstbeweihräucherung und Haß. Außerdem sprach er sehr ausgiebig von der ›Wahrheit‹, er wolle mit seinem Anliegen, wie er sich ausdrückte, ›unter den Lack der Zivilisation dringen‹.

Eine recht strapazierfähige, überall anwendbare, bestechende Metapher, dieser Vergleich mit dem Lack (oder Anstrich, oder Pliofilm, oder was immer), der die darunter liegende, edlere Realität verbirgt. Man kann damit ein Dutzend Trugschlüsse auf einmal an den Mann bringen. Einer der weitaus gefährlichsten ist die Folgerung, die Zivilisation sei, da künstlich erzeugt, unnatürlich: sie sei das Gegenteil von natürlich, echt, wahr… Es gibt selbstverständlich keinen Lack, das Ganze ist ein Wachstumsprozeß; Primitivität und Zivilisation sind lediglich verschiedene Stufen einer Entwicklung. Falls es für Zivilisation ein Gegenteil gibt, dann wäre es Krieg. Von diesen beiden hat man immer nur das eine oder das andere. Niemals beide zusammen. Ich hatte jedesmal, wenn ich Tibes monoton leidenschaftliche Ansprachen hörte, den Eindruck, daß er mit Hilfe von Einschüchterung und Überredungskunst versuchte, sein Volk zur Zurücknahme einer Entscheidung zu zwingen, die es schon getroffen hatte, bevor seine Geschichte überhaupt begann: die Entscheidung bei der Wahl zwischen eben diesen beiden Gegensätzen.