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Am frühen Nachmittag kam ich an den elektrischen Zäunen der Pulefen-Farm vorbei, und alle Spuren, die ich hinterließ, waren sofort wieder vom Neuschnee bedeckt. Ich ließ den Schlitten tief im Wald östlich der Farm in einem Bachbett stehen und kehrte auf Schneeschuhen, nur mit einem Rucksack beladen, zur Straße zurück. Auf ihr näherte ich mich offen dem Haupttor der Farm. Am Eingang zeigte ich meine Papiere vor, die ich während der Wartezeit in Turuf abermals gefälscht hatte. Sie trugen jetzt einen ›blauen Stempel‹, der mich als Thener Benth, Sträfling auf Bewährung, auswies, und einen angehefteten Befehl, mich an oder vor Eps Thern auf der Dritten Freiwilligen-Farm der Pulefen-Commensalität zu zwei Jahren Wachdienst zu melden. Ein scharfäugiger Inspektor wäre beim Anblick der zerfetzten Papiere mißtrauisch geworden, hier oben jedoch gab es nur wenige scharfe Augen.

Nichts leichter, als in ein Gefängnis hineinzukommen. Jetzt war ich auch, was das Hinauskommen betraf, ein wenig ruhiger.

Der Oberaufseher schimpfte, daß ich erst einen Tag später gekommen war, als in meinem Befehl vorgeschrieben, und schickte mich zu den Baracken hinüber. Das Essen war schon vorbei, daher war es glücklicherweise zu spät, mir meine Dienstuniform zu verpassen und meine eigene, gute Kleidung zu konfiszieren. Eine Waffe gab man mir nicht, aber ich fand eine, als ich in der Küche herumlungerte und dem Koch einen Happen zu essen abzuschmeicheln versuchte. Er hatte sein Gewehr hinter den Backöfen an einem Nagel hängen. Ich stahl es ihm. Es war mit keiner tödlichen Einstellung ausgerüstet; das waren vermutlich die Gewehre der Wachen alle nicht. Hier auf den Farmen brachte man die Menschen nicht um: man ließ sie an Hunger, Kälte und Verzweiflung sterben.

Es gab hier dreißig bis vierzig Gefangenenaufseher und etwa hundertfünfzig bis -sechzig Sträflinge, die alle sehr elend aussahen, und von denen die meisten schon fest schliefen, obwohl die vierte Stunde gerade vorüber war. Ich bat einen jungen Wachmann, mich herumzuführen und mir die schlafenden Gefangenen zu zeigen. Als ich sie in dem grellen Licht des großen Schlafsaales sah, wollte ich schon jede Hoffnung aufgeben, am selben Abend noch handeln zu können, bevor ich einen Verdacht auf mich lenkte. Die Männer lagen alle, wie Babies im Mutterleib, tief in ihre Schlafsäcke vergraben, so daß sie für mich unsichtbar, nicht zu erkennen waren. Das heißt, alle, bis auf einen, der zu groß war, um sich im Sack zu verstecken: dunkles Gesicht, abgezehrt zum Skelett, ein Totenkopf, geschlossene, tief eingesunkene Augen, ein Wust von langem, strähnigem Haar klebte auf seiner Stirn.

Das Glück, das sich mir in Ethwen zugewandt hatte, drehte nun in meiner Hand die ganze Welt. Ich hatte schon immer eine ganz besondere Gabe gehabt: zu wissen, wann das große Rad auch dem leisesten Fingerdruck gehorcht — zu wissen und zu reagieren. Letztes Jahr in Erhenrang hatte ich diese Intuition verloren zu haben geglaubt, hatte gedacht, sie würde nie zu mir zurückkehren. Daher war es jetzt ein ganz besonders herrliches Gefühl, wieder diese schlafwandlerische Sicherheit zu spüren, zu wissen, daß ich mein Schicksal und das Geschick der Welt in dieser gefährlichen Stunde steuern konnte wie einen Bobschlitten bei einer Schußfahrt einen Steilhang hinab.

Da ich in meiner Rolle als ruheloser, neugieriger Dummkopf noch immer überall herumstreifte, teilte man mich zur Nachtwache ein. Um Mitternacht lag außer mir und dem anderen Nachtwachmann alles in tiefem Schlaf. Ich setzte mein tölpelhaftes Herumschnüffeln fort und wanderte von Zeit zu Zeit immer wieder an den Schlafbrettern entlang. In Gedanken arbeitete ich meinen Plan aus und begann dann, Willen und Körper für den Dothe-Zustand vorzubereiten, denn ohne die zusätzliche Kraft aus dem Dunkel würde meine eigene Kraft niemals ausreichen. Kurz vor Morgengrauen ging ich mit dem Gewehr des Kochs noch einmal in den Schlafsaal hinüber, gab Genly Ai einen Betäubungsstoß von einer Hundertstelsekunde ins Gehirn, legte ihn mir mitsamt seinem Sack über die Schulter und trug ihn in die Wachstube hinaus.»Was ist denn los?«fragte der andere Wachposten verschlafen.»Laß ihn in Ruhe!«

»Er ist tot.«

»Schon wieder einer? Bei Meshes Bauch! Es ist doch noch nicht mal richtig Winter.«Er drehte sich auf die Seite, um dem Gesandten, dessen Kopf auf meinem Rücken hing, ins Gesicht zu sehen.»Ach, der ist das — der Perverse! Beim Großen Auge, ich hatte nie an das geglaubt, was man sich so über die Karhider erzählte, bis ich den hier sah, dieses scheußliche Monstrum! Die ganze Woche hat er auf dem Bett gelegen und geseufzt und gestöhnt, aber daß er so schnell krepieren würde, hätte ich nicht gedacht. Na ja, leg ihn nach draußen; da kann er bleiben, bis es hell wird. Steh nicht da rum wie ein Verlader mit einem Sack voll Scheiße…«

Auf meinem Weg den Korridor entlang machte ich noch einmal beim Inspektorenbüro halt, und da ich ja selber der Wachposten war, hinderte mich niemand daran, einzutreten und mich umzusehen, bis ich den Wandschrank fand, in dem die Alarmsirenen und Schalter angebracht waren. Sie waren alle unbeschriftet, aber die Wachen hatte sie mit eingeritzten Buchstaben gekennzeichnet, damit sie sie nicht verwechselten, wenn einmal Eile geboten war. Ich interpretierte ein ›Z‹ als ›Zaun‹, legte den entsprechenden Schalter um, weil ich ja den Strom in dieser äußersten Befestigung der Farm abstellen mußte, und setzte meinen Weg fort, indem ich Ai nunmehr an den Schultern weiterschleifte. Als ich an dem diensthabenden Aufseher in der Wachstube am Ausgang der Baracke vorbeikam, tat ich so, als habe ich große Mühe, das tote Gewicht des Gesandten fortzubewegen; in Wirklichkeit hatte meine Dothe-Kraft inzwischen voll eingesetzt, aber der Mann durfte auf keinen Fall sehen, wie leicht es mir fiel, diesen Mann zu tragen, der größer als ich selber war. Ich sagte:»Ein toter Sträfling. Man hat mir befohlen, ihn aus dem Schlafsaal zu entfernen. Wo soll ich ihn hinbringen?«

»Keine Ahnung. Schaff ihn raus. Leg ihn unter ein Dach, damit der Schnee ihn nicht zudeckt und er im nächsten Frühjahr, wenn’s taut, nicht als stinkender Kadaver zum Vorschein kommt.

Es schneit peditia.« Er meinte damit einen Schneefall, den wir sove nennen — dicke, nasse Flocken, eine gute Nachricht für mich.»Wird gemacht«, erklärte ich und hievte meine Bürde zur Tür hinaus und um die Barackenecke herum, wo er uns nicht mehr sehen konnte. Dann legte ich mir Ai wieder über die Schulter, marschierte ein paar hundert Meter nach Nordosten, warf meine Bürde über den toten Zaun, kletterte selbst hinüber, hob Ai wieder auf und machte mich, so schnell es ging, auf den Weg zum Fluß. Ich war noch nicht weit gekommen, als eine Sirene zu heulen begann und die Flutlichter aufflammten. Der Schnee fiel zwar so dicht, daß er mich verbarg, doch leider nicht so dicht, daß er meine Spuren innerhalb von Minuten zugedeckt hätte. Trotzdem waren sie mir, als ich den Fluß erreichte, immer noch nicht auf der Spur. Auf dem trockenen Boden unter den Bäumen oder, wo es keinen trockenen Boden gab, im Wasser wandte ich mich nach Norden; der Fluß, ein schneller, kleiner Nebenfluß des Esagel, war noch nicht zugefroren. Die Morgendämmerung erleichterte die Sicht, und ich kam schneller voran. In meinem Dothe-Zustand war mir der Gesandte zwar eine lange, unbequeme, aber keine unerträglich schwere Last. Dem Fluß bis in den Wald hinein folgend, kam ich an die Schlucht, in der mein Schlitten wartete, schnallte den Gesandten auf den Schlitten, packte meine Sachen so über ihn und um ihn herum, daß er gut versteckt war, und spannte über alles zusammen eine Zeltplane. Dann zog ich mich um und aß von dem Proviant aus meinem Rucksack, denn schon nagte der große Hunger, den ein längerer Dothe-Zustand mitbringt, in meinem Magen. Als ich fertig war, brach ich auf und folgte der Hauptstraße durch den Wald. Nicht lange, und zwei Skiläufer hatten mich eingeholt.