»Genau«, bestätigte er.»Wir waren sechs, und alle noch jung. Mein Bruder und ich von Estre, unsere vier Freunde von Stok. Die Reise diente keinem bestimmten Zweck. Wir wollten lediglich den Teremander sehen, einen Berg, der sich dort unten aus dem Großen Eis erhebt. Es gibt nur wenige Menschen, die ihn von der Landseite aus gesehen haben.«
Die Grütze blubberte — ganz etwas anderes als der steife, braune Kleister auf der Pulefen-Farm; sie schmeckte wie die gerösteten Kastanien von Terra und brannte mir köstlich im Mund. Durch und durch warm, und daher guter Laune, stellte ich fest:»Das beste Essen auf Gethen habe ich immer in Ihrer Gesellschaft eingenommen, Estraven.«
»Bis auf das Bankett in Mishnory.«
»Ach nein, das stimmt… Sie hassen Orgoreyn, nicht wahr?«
»Die Orgota können nicht kochen. Orgoreyn hassen? Nein, wie sollte ich das? Wie haßt man ein Land? Wie liebt man es? Tibe redet ständig davon; ich habe diesen Trick nie gelernt. Ich kenne Menschen, ich kenne Städte, Farmen, Berge, Flüsse und Felsen, ich weiß, wie bei einem Sonnenuntergang im Herbst die Sonnenstrahlen auf ein bestimmtes Stück Ackerland an einem Abhang fallen. Doch welchen Sinn hat es, all dem eine Grenze zu geben, all dem einen Namen zu geben und dort, wo der Name nicht mehr zutrifft, aufzuhören, es schön zu finden? Was ist das, Liebe zum eigenen Land? Ist es der Haß auf das eigene Nicht-Land? Dann wäre sie wahrhaftig nichts Gutes. Ist es vielleicht ganz schlicht und einfach Eigenliebe? Das ist etwas Gutes, aber man darf weder eine Tugend daraus machen, noch einen Beruf… Wie ich das Leben liebe, so liebe ich die Berge der Domäne Estre, doch diese Liebe ist nicht von einer Grenze aus Haß umgeben. Im Hinblick darauf, was jenseits dieser Wirklichkeit liegt, bin ich — hoffentlich — unwissend.«
Unwissend im Sinn der Handdara: unwissend im Hinblick auf die Abstraktion, festhaltend am konkreten Ding. In dieser Einstellung lag etwas Feminines, ein Verschließen vor dem Abstrakten, dem Ideal, eine Hingabe an das Gegebene, die mir nicht so recht gefiel.
Er aber setzte nachdenklich hinzu:»Ein Mensch, der eine schlechte Regierung nicht verabscheut, ist ein Narr. Und wenn es auf dieser Welt so etwas wie eine gute Regierung gäbe, wäre es mir eine große Freude, ihr zu dienen.«
In diesem Punkt verstanden wir uns.»Ich habe diese Freude kennengelernt«, sagte ich.
»Ja. Das dachte ich mir.«
Ich spülte unsere Eßschalen mit heißem Wasser aus und schüttete das Spülwasser vor das Zelt. Draußen war es stockfinster geworden; der Schnee fiel in feinen, dünnen Flocken, in dem matten, ovalen Lichtstreifen der Öffnung gerade noch erkennbar. Wieder fest eingesiegelt in die trockene Wärme unseres Zeltes, rollten wir unsere Schlafsäcke aus. Estraven sagte etwas.»Geben Sie mir die Schalen, Mr. Ai«, oder eine ähnliche, belanglose Bemerkung, und ich gab zurück:»Soll es denn ganz über das Gobrin-Eis hinweg beim ›Mister‹ bleiben?«
Er hob den Kopf und sah mich lächelnd an.»Ich weiß nicht, wie ich Sie sonst nennen soll.«
»Mein Name lautet Genly Ai.«
»Ich weiß. Sie benutzen meinen Landnamen.«
»Ich weiß auch nicht, wie ich Sie sonst nennen soll.«
»Harth.«
»Dann heiße ich Ai. — Wer nennt sich beim Vornamen?«
»Herdbrüder oder Freunde«, sagte er, und als er es sagte, war er auf einmal weit fort, war er, obwohl mich in dem drei Meter breiten Zelt nicht mal ein ganzer Meter von ihm trennte, fremd und unerreichbar geworden. Darauf gab es keine Erwiderung. Was kann arroganter sein als Aufrichtigkeit? Ernüchtert kletterte ich in meinen Pelzsack.»Gute Nacht, Ai«, sagte der Fremde, und der andere Fremde antwortete:
»Gute Nacht, Harth.«
Ein Freund. Was ist ein Freund in einer Welt, wo jeder Freund bei einer neuen Mondphase zum Geliebten werden kann? Ich konnte das nicht sein, ich, der ich in meiner Männlichkeit gefangen war: weder für Therem Harth noch für einen anderen seiner Rasse konnte ich ein Freund sein. Diese Menschen, weder Mann noch Frau, keines von beiden und doch beides, zyklusabhängig, mondabhängig, sich verwandelnd bei der Berührung einer Hand, Wechselbälger in der Wiege der Menschheit — diese Menschen waren nicht Fleisch von meinem Fleisch, waren für mich keine Freunde: zwischen uns konnte keine Liebe sein.
Wir schliefen. Einmal, als ich kurz aufwachte, hörte ich das leise Geräusch des Schnees, der knisternd und weich auf unser Zeltdach fiel.
Bei Morgengrauen stand Estraven auf und machte das Frühstück. Strahlend zog der Tag herauf. Wir luden auf, und als die Sonne die Spitzen der verkrüppelten Büsche am Rand der Mulde vergoldete, waren wir schon unterwegs: Estraven vorn im Geschirr, ich hinten als Steuermann. Der Schnee bekam allmählich eine Kruste; glatte Hänge nahmen wir wie ein Team Schlittenhunde: im Laufschritt. An jenem Tag marschierten wir am Rand des Waldes entlang, der bis an die Pulefen-Farm grenzt, und schließlich drangen wir in ihn ein, diesen Zwergwald aus dicht stehenden, knorrigen, mit Eisbärten behangenen Thore-Bäumen. Die Hauptstraße nach Norden wagten wir nicht zu benutzen, doch eine Weile konnten wir Holzwegen folgen, die in unsere Richtung führten, und kamen, da man umgestürzte Bäume und Unterholz säuberlich entfernt hatte, zügig voran. Im Tarrenpeth gab es kaum Schluchten oder steile Hänge zu überwinden. Am Abend zeigte der Tachometer am Schlitten eine Tagesleistung von zwanzig Meilen, und trotzdem waren wir längst nicht so müde wie am Abend zuvor.
Ein Ausgleich für die Härte des Winters auf Winter ist, daß es am Tag lange hell bleibt. Der Planet ist im Verhältnis zur Ebene der Ekliptik nur wenige Grade geneigt — nicht so stark, daß es in den niederen Breiten zu einem spürbaren Unterschied in den Jahreszeiten kommt. Die Jahreszeiten sind keine Angelegenheit der Hemisphären, sondern des gesamten Planeten — eine Folge seiner stark elliptischen Umlaufbahn. Im Aphel, dem sonnenfernsten und langsamsten Abschnitt der Bahn, gibt es nur eben soviel weniger Sonnenstrahlung, daß der Temperaturabfall das ohnehin unausgeglichene Wetter stört, daß der Teil der Oberfläche, der ohnehin kalt ist, noch kälter wird, und daß der nasse, graue Sommer der Äquatorgegend in einen stürmischen eisigen Winter übergeht. Da es im Winter trockener ist als im übrigen Jahr, könnte er die angenehmere Jahreszeit sein — wenn er nicht so unerträglich kalt wäre. Die Sonne steht immer hoch — wenn man sie sieht; es gibt keinen langsamen Übergang von Licht zu Dunkelheit, wie in den Polarregionen der Erde, wo Kälte und Nacht zusammen einfallen. Nein, Gethen hat einen hellen Winter: hart, schrecklich und hell.
Wir brauchten drei Tage, um den Tarrenpeth-Wald zu durchqueren. Am letzten Tag machte Estraven schon zeitig halt, um vor dem Dunkelwerden noch Fallen aufstellen zu können. Er wollte Pesthry fangen. Die Pesthry gehören zu den größeren Landtieren auf Winter, sind ungefähr so groß wie ein Fuchs, eierlegende Pflanzenfresser und haben einen wunderbaren grauen oder weißen Pelz. Estraven jedoch wollte ihr Fleisch, denn Pesthryfleisch ist nicht nur genießbar, sondern sogar wohlschmeckend. Die Tiere zogen jetzt in Scharen gen Süden; sie sind so schnell und scheu, daß wir auf unserem Weg nur zwei oder drei zu Gesicht bekamen, aber der Schnee war auf jeder Lichtung des Thore-Waldes von zahllosen, kleinen Schneeschuhspuren bedeckt, die alle in Richtung Süden wiesen. Nach ein bis zwei Stunden waren Estravens Fallen voll. Er säuberte und zerlegte die sechs Tiere, hängte ein Teil des Fleisches zum Einfrieren auf und kochte den Rest für unser Abendessen. Die Gethenianer sind keine Jäger, weil es ganz einfach nicht viel zu jagen gibt: keine großen Pflanzenfresser, und daher auch keine großen Fleischfresser. Eine Ausnahme macht nur das Meer. Die Gethenianer sind Fischer und Bauern. Noch nie zuvor hatte ich einen von ihnen mit Blut an den Händen gesehen.