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Es lebe die unvollendete Schöpfung!

Netherhad Thanern. Seit heute morgen kein Schnee mehr; bedeckt und windig, ungefähr minus zehn Grad. Der große, mehrfach geteilte Gletscher, auf dem wir uns befinden, kommt aus dem Westen ins Tal herunter, und wir sind jetzt an seinem äußersten Ostrand. Die Vulkane haben wir bereits ein Stück hinter uns gelassen, und nur im Osten begleitet uns noch, etwa in Augenhöhe, ein scharfrückiger Ausläufer des Dremegole. Wir haben uns bis zu einem Punkt vorgearbeitet, wo wir uns entscheiden müssen, ob wir dem Gletscher in seiner weiten Westkurve folgen und somit langsam, aber sicher auf das Eisplateau hinaufsteigen wollen, oder ob wir die Eisklippen eine Meile nördlich unseres heutigen Lagerplatzes zu erklettern versuchen und dadurch zwar ein Risiko auf uns nehmen, uns aber zwanzig bis dreißig Meilen Weg ersparen könnten.

Ai ist für das Risiko.

Es ist eine gewisse Zerbrechlichkeit an ihm. Er ist vollkommen ungeschützt, dem Wetter ausgesetzt, anfällig, und das bezieht sich sogar auf sein Geschlechtsorgan, das er stets außerhalb des Körpers mit sich herumtragen muß; aber er ist stark, unglaublich stark. Ich weiß zwar nicht, ob er den Schlitten länger ziehen kann als ich, aber er kann eindeutig kräftiger und schneller ziehen als ich — doppelt so schnell. Er kann den Schlitten vorn oder hinten anheben, um ihn über ein Hindernis zu bringen. Ich könnte dieses Gewicht nur heben und halten, wenn ich in Dothe bin. Und passend zu dieser Diskrepanz zwischen Zerbrechlichkeit und Kraft, hat er ein Temperament, das schnell verzweifelt, doch ebenso schnell auch aufbegehrt: Es ist ein wütender, ungeduldiger Mut in ihm. Diese mühselige, harte Arbeit, dies langsame Vorwärtskommen, die Plackerei der vergangenen Tage haben ihn körperlich und seelisch erschöpft, so daß ich ihn für einen Feigling halten würde, wenn er zu meiner Rasse gehörte. Aber er ist alles, nur nicht das; er besitzt eine unerschütterliche Tapferkeit, die ich noch niemals an einem Menschen beobachtet habe. Er ist bereit, er plädiert sogar mit Eifer dafür, sein Leben bei diesem gefährlichen Versuch an der Steilwand aufs Spiel zu setzen.

›Feuer und Furcht — gute Diener, schlechte Herren‹. Er macht die Furcht zu seinem Diener. Ich hätte mich von der Furcht zu dem weiten Umweg verführen lassen. Auf seiner Seite stehen Mut und Vernunft. Was nützt es, auf einem Marsch wie dem unseren den sicheren Weg zu wählen? Es gibt zwar sinnlose Wege, die ich nicht einschlagen würde, einen sicheren Weg aber gibt es nicht.

Streth Thanern. Kein Glück. Nirgends eine Möglichkeit, den Schlitten hinaufzubringen, obwohl wir den ganzen Tag gesucht haben.

Sove-Schnee in dicken Flocken, mit Asche vermischt. Den ganzen Tag war es dunkel, weil der Wind aus dem Westen die Rauchwolken des Drumner zu uns herüberblies. Hier oben zittert das Eis nicht mehr so stark, doch als wir heute versuchten, eine abschüssige Klippe zu erklettern, gab es ein richtiges Erdbeben. Der Schlitten wurde von da, wo wir ihn festgekeilt hatten, losgerissen und zog mich ungefähr drei Meter weit mit sich, doch Ai hatte zum Glück guten Halt, und seine Kraft bewahrte uns alle davor, sieben Meter oder noch tiefer zum Fuß der Klippe hinabzurutschen. Wenn einer von uns bei diesem Marsch ein Bein oder eine Schulter bricht, so bedeutet das für uns beide vermutlich das Ende: Genau darin liegt unser Risiko — bei Licht betrachtet, ein ziemlich häßliches. Das tiefer gelegene Gletschertal hinter uns ist von weißem Dampf erfüllt: Dort unten ergießt sich Lava aufs Eis. Umkehren ist also ausgeschlossen. Morgen werden wir den Aufstieg ein wenig weiter westlich versuchen.

Beren Thanern. Kein Glück. Wir müssen noch weiter nach Westen ausweichen. Den ganzen Tag nicht richtig hell geworden. Unsere Lungen schmerzen — nicht von der Kälte (die Temperatur sinkt sogar bei Nacht nicht unter minus achtzehn Grad), sondern vom Einatmen der Asche und der Dämpfe von den Eruptionen. Am Ende des zweiten Tages unserer vergeblichen Bemühungen, nach all dem ergebnislosen Krabbeln und Kriechen über Eisblöcke und an Eisklippen entlang, immer wieder durch eine glatte Wand, einen Überhang zum Umkehren gezwungen, um nach einem weiteren Versuch abermals keinen Erfolg zu haben, war Ai erschöpft und aufgebracht. Er zog ein Gesicht, als werde er gleich in Tränen ausbrechen, aber er tat es nicht. Ich glaube, er hält es entweder für schlecht oder für beschämend, wenn man weint. Selbst als er in den ersten Tagen unserer Flucht noch sehr, sehr krank und schwach war, versteckte er sein Gesicht vor mir, sobald er weinte. Ob aus persönlichen, rassischen, sozialen, sexuellen Gründen — wie kann ich erraten, warum Ai nicht weinen darf? Obwohl sein Name wie ein Schmerzensschrei klingt. Aus diesem Grund suchte ich ihn in Erhenrang übrigens zum erstenmal auf — wie lange das schon zurückzuliegen scheint! Ich hörte jemanden von ›einem Fremden‹ sprechen und fragte laut über die Straße nach dessen Namen; als Antwort hörte ich einen Schmerzensschrei, der aus einer menschlichen Kehle quer durch die Nacht zu mir herüberdrang.

Jetzt schläft er. Seine Arme zittern und zucken: Muskelermüdung. Und auch die Welt um uns herum, die Welt aus Eis und Fels, Asche und Schnee, Feuer und Nacht, zittert und grollt. Als ich vor einer Minute einmal hinausschaute, sah ich die Glut des Vulkans wie eine dunkelrote Blume unter dem Bauch der dichten Wolkendecke blühen, die über der Dunkelheit hängt.

Orny Thanern. Kein Glück. Dies ist der zweiundzwanzigste Tag unserer Reise, und seit dem zehnten Tag schon sind wir nicht mehr weiter nach Osten gekommen, sondern haben, im Gegenteil zwanzig bis fünfundzwanzig Meilen verloren, weil wir nach Westen marschieren mußten. Seit dem achtzehnten Tag haben wir überhaupt keine Fortschritte mehr gemacht und hätten ebensogut an einem Fleck bleiben können. Wenn wir jemals aufs Große Eis hinaufkommen — wird unser Lebensmittelvorrat dann noch reichen, bis wir es ganz überquert haben? Ich werde diesen Gedanken nicht los. Nebel und der Rauch der Eruptionen behindern die Sicht so sehr, daß wir unsere Kletterversuche ziemlich planlos unternehmen müssen. Ai möchte am liebsten jeden Aufstieg, der eine Andeutung von Schrägung hat, und sei sie auch noch so steil, in Angriff nehmen. Auf meine Vorsicht reagiert er mit Ungeduld. Ich muß mein Temperament zügeln. In ein bis zwei Tagen komme ich in die Kemmer, und dann wird die Nervenbelastung für mich noch zunehmen. Vorläufig sind wir damit beschäftigt, in einem von Asche erfüllten, eiskalten Dämmerlicht immer wieder gegen Eisklippen anzurennen. Wenn ich den Yomesh-Kanon umschreiben müßte, dann würde ich die Diebe nach ihrem Tod hierher schicken. Die Diebe, die bei Nacht in Turuf Säcke mit Lebensmitteln stehlen. Die Diebe, die einem Mann den Herd und den Namen stehlen und ihn, mit Schande bedeckt, in die Verbannung schicken. Mein Kopf ist schwer; ich muß all das, was ich jetzt geschrieben habe, später ausstreichen. Jetzt bin ich zu müde, es noch einmal durchzulesen.