Harhahad Thanern. Auf dem Gobrin! Der dreiundzwanzigste Tag unserer Reise. Wir sind auf dem Gobrin-Eis! Kaum hatten wir uns heute morgen auf den Weg gemacht, da sahen wir, nur hundert Meter hinter unserem gestrigen Lager, einen Weg, der auf das Eis hinaufführte, eine richtige Straße, die sich breit und mit Schlackenstückchen gepflastert von dem Geröll und den Spalten des Gletschers geradenwegs zwischen den Eisklippen hindurch nach oben zog. Wir spazierten hinauf, als schlenderten wir die Uferpromenade des Sees entlang. Wir sind auf dem Eis! Wir marschieren wieder nach Osten, nach Hause!
Ich habe mich von Ais Jubel über unsere Leistung anstecken lassen. Nüchtern betrachtet, ist es hier oben auch nicht viel besser. Wir befinden uns am Rand des Plateaus. Zahllose Spalten — einige davon breit genug, um ganze Dörfer zu verschlingen, nicht Haus um Haus, sondern ein ganzes Dorf auf einmal — ziehen sich nach Norden, soweit man sehen kann. Die meisten verlaufen quer zu unserer Route, so daß wir nach Norden gehen müssen, statt nach Osten. Die Oberfläche ist schlecht. Wir winden uns mit dem Schlitten zwischen großen Eisbuckeln und -brocken hindurch, ungeheuren Brocken, die durch die Kraft aufgeworfen wurden, mit der sich diese riesige Plastikplatte aus Eis zwischen dem Engpaß der Feuerberge hindurchrecken muß. Die durch den Druck entstandenen Verwerfungen haben seltsame Formen: umgestürzte Türme, beinlose Giganten, Katapulte. Das Eis, normalerweise eine Meile dick, erhebt sich und verdickt sich hier, versucht die Berge zuzudecken und die Feuerschlünde zu ersticken. Einige Meilen weiter im Norden ragt ein Gipfel aus dem Eis, der scharf gezeichnete, elegante, nackte Kegel eines jungen Vulkans: um Tausende von Jahren jünger als die Eisplatte, die niemals aufhört, zu mahlen und zu schieben, bis sie, zerrissen von Abgründen und zusammengedrückt zu Blöcken und Falten, die über zweitausend Meter niedrigeren Hänge, die wir nicht sehen können, verschlingen wird.
Immer, wenn wir uns während des Tages umdrehten, sahen wir den Rauch von Drumners Eruptionen wie eine grau-braune Verlängerung der Eisfläche hinter uns stehen. Ein steter Wind, der in Bodenhöhe von Nordosten kommt, reinigt die Luft hier oben vom Ruß und Gestank aus den Eingeweiden des Planeten, die wir seit Tagen haben einatmen müssen, und hindert den Rauch hinter uns am Emporsteigen, so daß er wie ein dunkler Deckel über den Gletschern, den niedrigeren Bergen, den Tälern voller Steinen, dem Rest der Erde liegt. Es existiert nichts als das Eis, sagt das Eis. Aber da hat der junge Vulkan oben im Norden wohl auch noch ein Wort mitzureden.
Kein Schnee, nur eine dünne, hohe Wolkendecke. Bei Anbruch der Dämmerung minus zwanzig Grad auf dem Plateau. Ein Durcheinander von Firn, neuem Eis und altem Eis unter unseren Füßen. Das neue Eis ist tückisch, eine glatte, bläuliche Fläche, nur eben von einem weißen Schleier bedeckt. Wir sind beide schon oft hingefallen. Einmal rutschte ich fünf Meter auf dem Bauch über eine solche Eisfläche. Ai, der im Geschirr ging, bog sich vor Lachen. Anschließend entschuldigte er sich und erklärte mir, er habe geglaubt, auf Gethen der einzige zu sein, der auf dem Eis ausrutscht.
Dreizehn Meilen heute. Doch wenn wir bei all den zerschnittenen, aufgetürmten, von Spalten durchzogenen Eis Verwerfungen dieses Tempo beibehalten wollen, werden wir uns völlig aufreiben oder noch Schlimmeres erleben als eine Rutschpartie auf dem Bauch.
Der zunehmende Mond, dunkelrot wie getrocknetes Blut, steht tief; er ist umgeben von einem bräunlichen, irisierenden Hof.
Guyrny Thanern. Ein wenig Schnee, auffrischender Wind und fallende Temperaturen. Heute wieder dreizehn Meilen, womit die zurückgelegte Strecke seit dem Verlassen des Lagers insgesamt 254 Meilen beträgt. Wir haben also durchschnittlich zehneinhalb Meilen pro Tag geschafft — elfeinhalb, wenn wir die beiden Tage, die wir während des Blizzards warten mußten, abziehen. Fünfundsiebzig bis hundert dieser mühseligen Meilen haben uns keinen Schritt vorwärts gebracht. Wir sind noch immer fast so weit von Karhide entfernt wie bei unserem Aufbruch. Aber die Chance, endlich doch ans Ziel zu gelangen, hat sich, glaube ich, ein wenig erhöht.
Seit wir aus dem Vulkannebel heraus sind, brauchen wir uns seelisch nicht mehr ausschließlich mit Arbeit und Mühsal zu beschäftigen und können uns nach dem Abendessen im Zelt noch eine Weile unterhalten. Da ich in Kemmer bin, wäre es einfacher für mich, Ais Gegenwart ganz und gar zu ignorieren, doch das ist in einem Zweimannzelt so gut wie ausgeschlossen. Das Problem liegt natürlich darin, daß er auf seine merkwürdige Art ebenfalls in Kemmer ist: immer in Kemmer ist. Es muß ein sonderbares, vielleicht nur schwaches Begehren sein, daß es sich über das ganze Jahr erstrecken kann und keine Geschlechtswahl zuläßt, aber es ist da. Und ich bin da. Heute abend kann ich mich des überwältigenden Bewußtseins seiner unmittelbaren körperlichen Nähe nur schwer erwehren, und bin zu müde, es zu Untrance oder zu einer anderen Ausweichübung zu sublimieren. Schließlich fragte er mich, ob er mich gekränkt habe. Ein wenig verlegen erklärte ich ihm mein Schweigen. Ich fürchtete, er werde mich auslachen, denn schließlich ist er kein größeres sexuelles Unikum als ich es bin: Hier oben auf dem Eis ist jeder von uns beiden der einzige seiner Art, ist einer so isoliert wie der andere, bin ich ebenso von meiner Rasse, von meiner Gesellschaft mit ihren Regeln abgeschnitten wie er von seiner. Und darin sind wir uns nun gleich — isoliert, fremd, allein. Er lachte natürlich nicht, sondern begann mit einer Güte auf mich einzureden, der ich ihn nicht für fähig gehalten hätte. Nach einer Weile kam auch er auf das Thema Isoliertheit, Einsamkeit zu sprechen.
»Im Grunde ist eure Rasse erschreckend allein auf eurer Welt«, sagte er.»Es gibt keine andere vergleichbare Säugetier- Art. Es gibt keine andere zweigeschlechtliche Spezies. Kein Tier, das intelligent genug wäre, daß man es zum Haustier machen könnte. Diese Tatsache, diese Einzigartigkeit, muß eure Denkweise natürlich beeinflussen. Ich meine, nicht nur die wissenschaftliche Denkweise, obgleich ihr im Aufstellen von Hypothesen ganz außerordentlich begabt seid. — Erstaunlich, daß ihr angesichts dieser unüberbrückbaren Kluft zwischen euch und den niederen Tierarten überhaupt zu einem Evolutionskonzept gelangt seid! — Nein, ich meine auch, philosophisch, emotionelclass="underline" So einsam zu sein, in einer so feindlichen Umwelt zu leben, muß eure gesamte Einstellung beeinflussen.«
»Die Yomeshta würden sagen, die Einzigartigkeit des Menschen liegt in seiner Göttlichkeit.«
»Die Herren der Erde — ja. Andere Kulte auf anderen Welten sind zu demselben Schluß gekommen. Zumeist handelt es sich dabei um die Kulte dynamischer, aggressiver, die Ökologie zerstörender Kulturkreise. In gewisser Weise paßt auch Orgoreyn in dieses Schema; zumindest scheinen die Orgota versessen darauf, den Lauf der Dinge zu bestimmen. Was aber sagen die Handdarata?«
»Nun ja, in der Handdara… Sie wissen doch, daß es da weder eine Theorie noch ein Dogma gibt… Aber vielleicht sind sie sich der Kluft zwischen Mensch und Tier nicht so sehr bewußt, sondern beschäftigen sich mehr mit den Ähnlichkeiten, den Bindegliedern, dem Ganzen, dessen Teile die lebenden Dinge sind.«Den ganzen Tag schon war mir Tormers Lied im Kopf herumgegangen; nun zitierte ich seine Worte: