Meine Stimme bebte, als ich die Verse sprach, denn als ich sie sprach, erinnerte ich mich, daß mein Bruder in dem Brief, den er mir vor seinem Tode schrieb, dieselben Worte zitiert hatte.
Ai brütete vor sich hin und sagte erst nach geraumer Zeit:»Ihr seid isoliert und ungeteilt. Vielleicht seid ihr genauso sehr in die Idee der Ganzheit verrannt, wie wir in die des Dualismus.«
»Wir sind aber auch dualistisch. Dualität ist wesentlich, nicht wahr? Solange es das Selbst und das Andere gibt.«
»Das Ich und das Du«, bestätigte er.»Ganz recht. Das geht schließlich doch über das Geschlechtliche hinaus…«
»Sagen Sie, Ai, wie unterscheidet sich das andere Geschlecht Ihrer Rasse eigentlich von dem Ihren?«
Er wirkte bestürzt, und ich war ebenso über meine Frage bestürzt; in der Kemmer neigt man zu derartig spontanen Regungen. Wir waren beide ein wenig verlegen.»Ach ja, daran habe ich überhaupt nicht gedacht«, sagte er.»Sie haben ja noch nie eine Frau gesehen.«Dabei benutzte er das Wort der Terranersprache, das mir bekannt war.
»Ich habe Ihre Bilder gesehen. Die Frau sah aus wie ein schwangerer Gethenianer, nur hatte sie größere Brüste. Unterscheiden sie sich von Ihrem Geschlecht auch in der Denkweise? Sind sie, im Vergleich zu Ihnen, praktisch eine andere Spezies?«
»Nein. Ja. Nein, natürlich nicht. Im Grunde nicht. Aber… nun der Unterschied ist äußerst wichtig. Ich glaube, das Allerwichtigste, der schwerwiegendste Einzelfaktor im Leben ist, ob man als Junge oder Mädchen geboren wird. Das entscheidet in den meisten Gesellschaftsformen über die Erwartungen, die man an das Leben stellt, stellen kann, die Beschäftigungen, die Einstellung, die Ethik, die Manieren — ja, praktisch alles. Das Vokabular. Die Anwendung der Semiotik. Die Kleidung. Sogar über das Essen. Frauen Frauen essen eher weniger… Es ist sehr schwierig, die angeborenen Unterschiede von den angelernten zu trennen. Sogar dort, wo die Frauen an der Gesellschaft im gleichen Maß teilhaben wie die Männer, bringen sie schließlich immer noch die Kinder zur Welt und sind auch für den größten Teil der Kindererziehung verantwortlich…«
»Dann ist die Gleichberechtigung nicht die Regel? Sind die Frauen denn geistig minderwertig?«
»Das weiß ich nicht. Es gibt unter ihnen kaum Mathematiker, Komponisten, Erfinder oder abstrakte Denker. Aber es ist nicht so, daß sie dumm wären. Körperlich gesehen, haben sie weniger stark ausgeprägte Muskeln, sind aber etwas widerstandsfähiger als Männer. Psychologisch…«
Er starrte lange schweigend in die Glut des Ofens. Dann schüttelte er den Kopf.»Harth«, sagte er,»ich kann Ihnen nicht beschreiben, was Frauen sind. Ich habe nie im abstrakten Sinne über sie nachgedacht, wissen Sie, und inzwischen habe ich sie — mein Gott! — praktisch vergessen. Ich bin jetzt seit zwei Jahren hier… Sie ahnen ja nicht… In gewissem Sinne sind Frauen mir jetzt fremder als Sie. Mit Ihnen habe ich wenigstens ein Geschlecht gemeinsam…«Er wandte sich ab und lachte nervös. Meine Gefühle waren sehr kompliziert, und wir ließen das Thema fallen.
Yrny Thanern. Achtzehn Meilen auf Skiern, nach dem Kompaß in Richtung Ost-Nordost. Nach einer Stunde Schlittenziehen kamen wir aus dem Gebiet der Verwerfungen heraus. Wir spannten uns beide ins Geschirr. Ich lief zunächst mit der Sonde voraus, aber wir brauchten den Boden nicht mehr zu sondieren: Der Firn liegt bis zu einem Meter hoch über festem Eis, und auf dem Firn liegen viele Zentimeter guten, tragfähigen Neuschnees vom letzten Niederschlag und boten eine ideale Oberfläche. Nirgends brachen wir selbst oder der Schlitten ein, und unser Gefährt ließ sich so leicht ziehen, daß wir uns kaum vorstellen konnten, immer noch jeder mehr als hundert Pfund nachzuschleppen. Während des Nachmittags wechselten wir uns mit dem Ziehen ab, denn auf dieser herrlich glatten Fläche schafft einer es gut allein. Nur schade, daß die schwerste Schlepperei bergauf und über die Felsen ging, als unsere Ladung noch erheblich schwerer war. Jetzt haben wir es leicht. Zu leicht: Ich muß immer wieder über unsere Lebensmittel nachdenken. Im Augenblick essen wir, wie Ai es ausdrückt, ätherisch. Den ganzen Tag ging es leicht und schnell über die flache Eisebene — totenbleich unter dem graublauen Himmel, nur von den wenigen, schwarzen, schon weit hinter uns liegenden Gipfeln durchbrochen, und noch weiter dahinter ein dunkler Fleck, der rauchige Atem des Drumner. Sonst nichts: nur die verschleierte Sonne und das Eis.
SIEBZEHNTES KAPITEL
Eine Orgota-Schöpfungslegende
Diese Legende geht auf prähistorische Ursprünge zurück; sie wurde in vielfältiger Gestalt aufgezeichnet. Die vorliegende — sehr primitive — Version stammt aus einer Prä-Yomesh-Schrift, die im Isenpeth-Höhlenheiligtum im Gobrin-Hinterland gefunden wurde.
Im Anfang war das Eis und die Sonne.
Die Sonne schien viele Jahre hindurch, bis sie eine große Spalte in das Eis geschmolzen hatte. In den Flanken dieser Spalte aber waren große Eisgestalten, und sie hatte keinen Boden. Wassertropfen, die von den Eisgestalten in den Flanken der Spalte schmolzen, fielen tief und immer tiefer. Eine der Eisgestalten sagte:»Ich blute.«Eine andere Eisgestalt sagte:»Ich weine.«Und eine dritte sagte:»Ich schwitze.«
Die Eisgestalten kletterten aus der Spalte heraus und standen auf der Ebene aus Eis. Er, der gesagt hatte:»Ich blute«, griff zur Sonne empor, riß Hände voll Exkremente aus den Eingeweiden der Sonne und formte aus diesem Dung die Berge und Täler der Erde. Er, der gesagt hatte:»Ich weine«, hauchte auf das Eis, schmolz es und machte daraus die Meere und Flüsse. Er, der gesagt hatte:»Ich schwitze«, nahm Erde und Meerwasser und machte daraus Bäume, Pflanzen, Gräser und Korn auf dem Feld, Tiere und Menschen. Die Pflanzen wuchsen im Boden und im Meer, die Tiere liefen auf dem Land und schwammen im Meer, aber die Menschen wollten nicht erwachen. Es waren neununddreißig. Sie lagen schlafend auf dem Eis und rührten sich nicht.
Da ließen sich die drei Eisgestalten nieder, saßen mit angezogenen Knien und ließen sich von der Sonne schmelzen. Sie schmolzen wie Milch, und die Milch lief den Schläfern in den Mund, und die Schläfer erwachten. Diese Milch wird nur von den Menschenkindern getrunken; ohne sie erwachen sie nicht zum Leben.
Der erste, der erwachte, war Edondurath. So hochgewachsen war er, daß sein Kopf, als er aufstand, den Himmel spaltete, und Schnee zu fallen begann. Er sah, daß sich die anderen bewegten und erwachten; aber er fürchtete sich vor ihnen, als sie sich regten, darum tötete er einen nach dem anderen mit einem Faustschlag. Sechsunddreißig von ihnen tötete er. Doch einer, der vorletzte, lief davon. Dieser hieß Haharath. Er lief davon, weit über die Ebene aus Eis und über das Land der Erde. Edondurath lief hinter ihm her, holte ihn schließlich ein und erschlug ihn. Haharath starb. Da kehrte Edondurath zu seinem Geburtsplatz auf dem Gobrin-Eis zurück, wo die Leichname der anderen lagen. Einer aber war verschwunden: Er war geflohen, während Edondurath den Haharath verfolgte.
Edondurath baute aus den steifgefrorenen Leichnamen seiner Brüder ein Haus und wartete in diesem Haus darauf, daß der Geflohene zurückkäme. Jeden Tag begann einer der Leichname zu sprechen und sagte:»Brennt er schon? Brennt er schon?«Und alle anderen Leichname antworteten mit ihren gefrorenen Zungen:»Nein, noch nicht.«Da kam aber Edondurath, während er schlief, in Kemmer. Er bewegte sich und sprach im Traum, und als er erwachte, sagten die Leichname alle im Chor:»Er brennt! Er brennt!«Der letzte der Brüder, der jüngste, der geflohen war und wieder zurückkehrte, hörte sie das sagen und kam in das Haus aus Leichnamen und vereinigte sich mit Edondurath. Aus diesen beiden wurde die Menschenrasse geboren: aus dem Fleisch Edonduraths, aus Edonduraths Leib. Der Name des anderen, des jüngeren Bruders, des Vaters — sein Name ist unbekannt.