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Doch jedes der Kinder, die ihnen geboren wurden, hatte ein Stück Dunkelheit, das ihm überallhin folgte, wo immer es selbst bei Tageslicht ging und stand. Edondurath fragte:»Warum werden meine Kinder von der Dunkelheit verfolgt?«Sein Kemmering antwortete:»Weil sie in einem Haus aus Fleisch geboren wurden, darum folgt ihnen der Tod auf dem Fuß. Sie sind im Mittelpunkt der Zeit. Im Anfang war die Sonne und das Eis, und es gab keinen Schatten. Am Ende, wenn es aus mit uns ist, wird die Sonne sich selbst verschlingen, der Schatten wird das Licht fressen, und es wird nichts mehr geben als das Eis und die Dunkelheit.«

ACHTZEHNTES KAPITEL

Auf dem Eis

Manchmal, wenn ich in einem dunklen, stillen Raum in Schlaf sinke, erlebe ich für einen Augenblick eine große und kostbare Illusion aus der Vergangenheit. Die Wand eines Zeltes hängt schräg über meinem Gesicht — nicht sichtbar, nur hörbar: eine schräge Ebene schwacher Geräusche, des leisen Geflüsters fallenden Schnees. Zu sehen ist nichts. Das Licht des Chabe- Ofens ist abgestellt, und der Ofen existiert nur als eine Kugel aus Hitze, ein Zentrum der Wärme. Die leichte Feuchtigkeit, die einhüllende weiche Berührung meines Schlafsacks auf der Haut; das Geräusch des fallenden Schnees; kaum hörbar, Estravens Atem im Schlaf; und Dunkelheit. Sonst nichts. Wir, wir beide allein, befinden uns in sicherer Hut, ruhen im Mittelpunkt aller Dinge. Draußen liegt, wie immer, die große Dunkelheit, die Kälte, die Einsamkeit des Todes.

In solchen, glücklichen Augenblicken, bevor ich wieder einschlafe, weiß ich mit einer über alle Zweifel erhabenen Sicherheit, wo der wirkliche Mittelpunkt meines eigenen Lebens liegt: in jener Zeit, die vergangen und verloren und dennoch ewig ist, in jenem endlosen Augenblick, in jenem Kern aus köstlicher Wärme.

Ich will damit nicht sagen, daß ich in jenen Wochen, in denen wir mitten im Winter den Schlitten über das tödliche Eisplateau zogen, glücklich war. Im Gegenteil, ich war hungrig, überanstrengt, häufig bekümmert, und je länger es dauerte, desto schlimmer wurde das alles für mich. Nein, glücklich war ich wirklich nicht. Glücklichsein hat etwas mit dem Verstand zu tun, und man erreicht es nur mit dem Verstand. Was mir damals gegeben wurde, war etwas, was man nicht durch Bemühungen des Verstandes erreichen und halten kann, und häufig nicht einmal erkennt, wenn man es hat: Ich meine Freude.

Ich wachte immer als erster auf — gewöhnlich schon vor Tagesanbruch. Mein Stoffwechselsystem arbeitete ein wenig schneller als das der Gethenianer, genau wie ich sie auch an Gewicht und Größe übertreffe. Estraven, in seiner Gewissenhaftigkeit, die man als hausfraulich, vielleicht aber auch als wissenschaftlich ansehen konnte, hatte diese Unterschiede in seine Lebensmittelzuteilungs-Kalkulationen einbezogen, und so bekam ich von Anfang an jeweils ungefähr fünfzig Gramm Nahrung mehr als er. Proteste, das sei doch ungerecht, mußten vor seinem Sinn für die Gerechtigkeit dieser ungleichen Teilung verstummen. Doch wie auch immer aufgeteilt — unsere Rationen waren klein. Ich war hungrig, ständig hungrig, und wurde tagtäglicher hungriger. Ich wachte einfach vor Tageseinbruch auf, weil ich Hunger hatte.

Wenn es noch dunkel war, schaltete ich das Licht des Chabe- Ofens ein und stellte einen Topf voll Eis, das wir am Abend zuvor hereingeholt hatten, und das inzwischen geschmolzen war, zum Sieden aufs Feuer. Inzwischen focht Estraven seinen üblichen erbitterten, stummen Kampf mit dem Schlaf aus, der jedesmal wirkte, als ringe er mit einem Engel. Hatte er ihn gewonnen, richtete er sich auf, starrte mich ausdruckslos an, schüttelte den Kopf und erwachte. Wenn wir dann angezogen waren und die Schlafsäcke zusammengerollt hatten, war auch das Frühstück fertig: ein Becher voll kochend heißem Orsh mit einem Würfel Gichymichy, mit heißem Wasser zu einer Art kleinem, teigigem Brötchen aufgeschwemmt. Wir kauten langsam, konzentriert und hoben alle heruntergefallenen Krumen auf. Während wir aßen, kühlte der Ofen ab. Zusammen mit Topf und Bechern packten wir ihn ein, zogen die Kapuzenmäntel und Handschuhe an und krochen in die frische Luft hinaus. Die Kälte draußen kam mir immer wieder unglaublich vor, aber jeden Morgen mußte ich von neuem daran glauben lernen. War man zuvor schon einmal draußen gewesen, um sich zu erleichtern, dann fiel das zweite Verlassen des Zeltes um so schwerer.

Manchmal schneite es; manchmal lagen die langen Sonnenstrahlen des frühen Morgens herrlich golden und blau über der meilenweiten Eisfläche; zumeist jedoch war alles grau.

Bei Nacht nahmen wir das Thermometer mit uns ins Zelt, und wenn wir es dann wieder hinausbrachten, war es interessant, zu sehen, wie der Zeiger ruckartig rechts ausschlug (die Gethenianer-Skalen werden im entgegengesetzten Uhrzeigersinn gelesen) und einen Temperatursturz von zehn, dreißig, vierzig Grad anzeigte, bis er dann irgendwo zwischen minus zwanzig und minus fünfzig stehenblieb.

Einer von uns brach das Zelt ab und legte es zusammen, während der andere Ofen, Schlafsäcke und so weiter auf dem Schlitten verstaute; das Zelt wurde über die gesamte Ladung gespannt, und dann waren wir für Skier und Geschirr bereit. Bei unseren Gurten und Beschlägen war kaum Metall verwendet worden, das Geschirr jedoch hatte Schnallen aus einer Aluminiumlegierung, die zu klein waren, um sie mit Handschuhen schließen zu können, und mir vor Kälte die Haut verbrannte, als wären sie glühend heiß. Sobald die Temperatur auf minus dreißig Grad sank, mußte ich vor allem, wenn es windig war, sehr vorsichtig mit meinen Fingern sein, weil sie erstaunlich schnell erfroren. Mit meinen Füßen hatte ich keine Schwierigkeiten, und das ist ein lebenswichtiger Faktor bei einer Winterexpedition, auf der Erfrierungen, die länger als eine Stunde anhalten, den Befallenen auf Lebenszeit zum Krüppel machen können. Estraven hatte meine Größe schätzen müssen, daher waren mir die Schneestiefel, die er besorgt hatte, ein wenig zu groß. Mit einem Paar Extrasocken ließ sich der Unterschied aber leicht ausgleichen. Wir schnallten die Skier an, spannten uns möglichst schnell ins Geschirr, zogen, zerrten und stemmten den Schlitten frei, wenn die Kufen festgefroren waren, und liefen los.

Nach starkem Schneefall mußten wir morgens zunächst das Zelt und den Schlitten ausgraben, bevor wir aufbrechen konnten. Aber der Neuschnee ließ sich leicht beiseite schaufeln, auch wenn er sich um uns, da wir ja schließlich das einzige Hindernis, auf Hunderte von Meilen das einzige Objekt waren, das sich über das Eis erhob, zu hohen, imposanten Wehen aufgetürmt hatte.

Mit Hilfe des Kompasses marschierten wir ostwärts. Der Wind wehte fast ständig aus Norden, also vom Gletscher herunter. Tag um Tag kam der Wind von links. Dagegen half auch die Kapuze nichts mehr, so daß ich zum Schutz meiner Nase und meiner linken Wange eine Gesichtsmaske tragen mußte. Trotzdem fror eines Tages mein linkes Auge zu, und ich fürchtete schon, die Sehkraft verloren zu haben; denn selbst als Estraven es mit seinem Atem und seiner Zunge aufgetaut hatte, konnte ich eine Zeitlang nichts mehr sehen; also war doch vermutlich noch mehr eingefroren als nur die Wimpern. Bei Sonne trugen wir beide die gethenianische Schlitzbrille, darum hatte keiner von uns unter Schneeblindheit zu leiden. Allerdings gab es dazu auch kaum Gelegenheit. Das Eis hält, wie Estraven mir erklärt hatte, eine Hochdruckzone über seinem Zentralgebiet fest, wo Tausende von Quadratmeilen glitzerndes Weiß das Sonnenlicht reflektieren. Wir aber befanden uns nicht in diesem Zentralgebiet, sondern höchstens an seinem äußersten Rand, zwischen ihm und jener Turbulenzzone abgelenkter, schneebeladener Stürme, die der Gletscher ständig zur Geißel der unterglazialen Regionen macht. Der Nordwind brachte trockenes, klares Wetter, der Nordost und der Nordwestwind dagegen brachten Schnee, peitschten den trockenen, zuvor gefallenen Schnee zu blendenden, beißenden Wolken auf, die denen der Sand- und Staubstürme glichen, oder sie trieben ihn, kaum wahrnehmbar, in Schlangenlinien über die Eisfläche, so daß der Himmel weiß war, die Luft weiß war, und es weder Sonne noch Schatten gab: Sogar der Schnee, das Eis selber, verschwand wie in einem Schleier unter unseren Füßen.