Er blieb stumm.
»Ich habe schon mehrmals shifgrethor-Fehler gemacht. Das tut mir leid; anscheinend werde ich es nie lernen. Ich verstehe ja nicht einmal die Bedeutung des Wortes.«
»Shifgrethor? Das kommt von einem alten Wort für ›Schatten‹.«
Wir schwiegen beide, bis er mich mit einem offenen, freundlichen Blick ansah. Sein Gesicht wirkte in dem rötlichen Licht so sanft, verletzlich und fern wie das Gesicht einer Frau, die mitten aus ihren Gedanken heraus aufschaut, nichts sagt, nur schaut.
In diesem Augenblick sah ich wieder einmal, sah ich endgültig, was zu sehen ich immer gefürchtet, und was nicht zu sehen ich immer vorgegeben hatte: daß er sowohl ein Mann als auch eine Frau war. Jedes Bedürfnis, die Quelle dieser Furcht zu ergründen, verschwand zusammen mit der Furcht selbst; was übrig blieb, war die Erkenntnis, daß ich ihn endlich so akzeptierte, wie er war. Bis dahin hatte ich ihn zurückgestoßen, hatte ihm seine eigene Realität verweigert. Er hatte ganz recht gehabt, als er sagte, daß er, der einzige Mensch auf Gethen, der mir vertraute, der einzige Gethenianer war, dem ich mißtraute. Denn er war der einzige, der mich vollkommen als Mensch akzeptiert hatte: der mich persönlich gern gehabt und mir seine ganze persönliche Loyalität geschenkt, und der darum von mir ein gleiches Maß an Anerkennung, an Akzeptierung gefordert hatte. Das aber war ich nicht zu geben bereit gewesen. Ich hatte mich davor gefürchtet, es zu geben. Ich wollte mein Vertrauen, meine Freundschaft keinem Mann schenken, der eine Frau war, wollte sie keiner Frau schenken, die ein Mann war.
Er erklärte mir, steif, aber mit schlichten Worten, daß er in Kemmer sei und mir deswegen so weit aus dem Weg zu gehen versuche, wie es unter den gegebenen Umständen möglich war.»Ich darf Sie nicht berühren«, sagte er äußerst beherrscht. Und wandte dabei den Kopf zur Seite.
Ich antwortete:»Ich verstehe. Ich bin vollkommen einverstanden.«
Denn mir schien — und ich glaube, ihm ging es ebenso -, daß aus dieser zwischen uns bestehenden sexuellen Spannung, jetzt eingestanden und von uns verstanden und akzeptiert wurde, daß aus ihr die große Sicherheit der gegenseitigen Freundschaft erwuchs: einer Freundschaft, so notwendig für uns beide in unserem Exil, und in den Tagen und Nächten unseres bitteren Marsches bereits so gut erprobt, daß man sie, jetzt und später, ebenso gut Liebe nennen könnte. Doch diese Liebe entstand aus dem Unterschied zwischen uns, nicht aus der Affinität und Ähnlichkeit; sie entstand aus dem Unterschied und war die Brücke, die einzige Brücke über das, was uns beide trennte. Eine sexuelle Begegnung wäre für uns nur wieder eine Begegnung zwischen Fremden gewesen. Wir hatten uns auf die einzige Art berührt, in der wir uns berühren konnten. Und dabei beließen wir es. Ob wir recht damit taten, weiß ich nicht.
Wir unterhielten uns noch lange an jenem Abend, und ich erinnere mich, daß es mir schwerfiel, zusammenhängend zu antworten, als er mich fragte, was eine Frau sei und wie Frauen eigentlich wären. Während der nächsten paar Tage verhielten wir uns beide ziemlich steif und vorsichtig. Die tiefe Liebe zwischen zwei Menschen beinhaltet auch die Macht und die Möglichkeit, tiefen Schmerz zuzufügen. Vor diesem Abend wäre es mir nie in den Sinn gekommen, daß ich Estraven Schmerz zufügen könnte.
Nun, da diese Schranken gefallen waren, kam mir die Begrenztheit, unter der unsere Gespräche und unser gegenseitiges Verständnis in meinen Augen litten, fast unerträglich vor. Schon kurz darauf, zwei oder drei Tage später, sagte ich nach dem Abendessen — gezuckerte Kadik- Grütze, etwas Besonderes zur Feier eines Zwanzig-Meilen- Tagespensums — zu meinem Gefährten:»Im letzten Frühjahr, an jenem Abend im Roten Eckgebäude, sagten Sie mir, daß Sie den Wunsch hätten, mehr über die paraverbale Sprache zu erfahren.«
»Ganz recht.«
»Wollen wir versuchen, ob ich Sie diese Sprache lehren kann?«
Er lachte.»Sie wollen mich beim Lügen ertappen?«
»Wenn Sie mich jemals belogen haben, so liegt das lange zurück und in einem anderen Land.«
Er war ein aufrichtiger Mensch, aber selten freimütig. Meine Worte amüsierten ihn, und er sagte:»In einem anderen Land erzählte ich Ihnen vielleicht andere Lügen. Aber ich dachte, es wäre Ihnen verboten, den… den Eingeborenen Unterricht in der Gedankensprache zu geben, bevor wir uns nicht der Ökumene angeschlossen haben.«
»Verboten nicht. Man tut es nur nicht. Ich aber werde es tun, wenn Sie es wollen. Und wenn ich es kann. Ich bin kein Eduktor.«
»Es gibt also spezielle Lehrer für diese Kunst?«
»Ja. Auf Alterra allerdings nicht, weil dort das Vorkommen der natürlichen Sensitivität sehr hoch ist und — wie man behauptet — die Mütter sich mit ihren ungeborenen Kindern unterhalten. Keine Ahnung, was die Kinder antworten. Wir anderen aber müssen die Sprache fast alle genauso lernen, als handele es sich um eine Fremdsprache. Oder vielmehr, als handle es sich um unsere Muttersprache, die wir ja auch erst lernen müssen.«
Ich glaube, er verstand, warum ich ihm anbot, ihn in dieser Kunst zu unterrichten, und wollte sie auch sehr gern erlernen. Also versuchten wir es. Ich rief mir ins Gedächtnis zurück, auf welche Weise ich mit ungefähr zwölf Jahren eduziert worden war. Ich bat ihn, an nichts zu denken, seinen Kopf ganz leer, ganz dunkel zu machen. Er tat das zweifellos wesentlich schneller und gründlicher als es mir jemals gelungen ist, denn schließlich war er ein Handdara-Adept. Dann besprach ich ihn so klar und deutlich es ging. Ohne Erfolg. Wir machten einen neuen Versuch. Da man erst selbst besprechen kann, nachdem man einmal besprochen worden, nachdem also die telepathische Fähigkeit durch einen klaren Empfang sensitiviert worden ist, mußte ich zuerst mit ihm Kontakt herstellen. Ich bemühte mich eine halbe Stunde lang, bis mir das Hirn heiser geworden war. Er sah mich niedergeschlagen an.»Ich hatte gedacht, es würde mir leicht fallen«, gestand er. Wir waren beide völlig erschöpft und gaben die Versuche für diesen Tag auf.
Unsere nächsten Bemühungen waren ebensowenig von Erfolg gekrönt. Ich versuchte, mit Estraven Verbindung aufzunehmen, während er schlief, denn mir war eingefallen, was mein Eduktor mir über das Vorkommen von ›Traumbotschaften‹ bei Prä-Telepathen erzählt hatte, aber auch das klappte nicht.
»Vielleicht ist meine Spezies gar nicht dazu fähig«, gab er zu bedenken.»Bei uns kursieren zwar genügend Gerüchte und Andeutungen, um in unserer Sprache einen Ausdruck für diese Fähigkeit zu schaffen, von irgendwelchen bewiesenen telepathischen Vorfällen jedoch ist mir nichts bekannt.«
»Genauso ging es meinem Volk vor Tausenden von Jahren. Es gab einige wenige natürliche Sensitive, die ihre Gabe nicht verstanden, und die niemanden hatten, an den sie senden oder von dem sie empfangen konnten. Die übrigen waren, falls überhaupt, alle latent. Wie Sie wissen, habe ich Ihnen schon erklärt, daß diese Fähigkeit, außer beim geborenen Sensitiven, zwar eine physiologische Basis hat, dennoch aber eine psychologische Fähigkeit ist, ein Kulturprodukt, ein Nebeneffekt der Arbeit des Gehirns. Kleine Kinder, Anomale und Angehörige unentwickelter oder zurückentwickelter Gesellschaften können nicht gedankensprechen. Zuerst muß die Denkfähigkeit bis auf ein bestimmtes, komplexes Niveau entwickelt sein. Aus einzelnen Atomen kann man keine Aminosäuren machen, bevor nicht eine gewisse Komplexität der Anordnung in Verbindungen erreicht ist: die gleiche Situation, Abstraktes Denken, verschiedene soziale Wechselwirkungen, schwierige kulturelle Angleichungsvorgänge, ästhetisches und ethisches Empfinden — das alles muß ein bestimmtes Niveau erreichen, bevor eine so komplexe Verbindung hergestellt werden kann, bevor man überhaupt in die Reichweite dieser Fähigkeit kommt.«