»Vielleicht haben wir Gethenianer dieses Niveau noch nicht er reicht.«
»Ihr seid weit darüber hinaus. Aber es gehört auch Glück dazu. Genau wie bei der Schaffung von Aminosäuren… Oder nehmen wir lieber kulturelle Analogien — nichts weiter als Analogien, aber sie beleuchten die Situation: zum Beispiel die wissenschaftlichen Methoden, die Anwendung komplizierter experimenteller Methoden auf dem Gebiet der Naturwissenschaft. Es gibt Völker in der Ökumene, die eine hoch entwickelte Kultur besitzen, eine komplex zusammengesetzte Gesellschaft, Philosophie, Kunst, Ethik, einen hoch entwickelten Stil und große Errungenschaften auf all diesen Gebieten; und trotzdem haben sie nie gelernt, zum Beispiel etwas präzise abzuwiegen. Sie können es natürlich lernen, aber sie haben es eine halbe Million Jahre lang nicht gelernt, weil sie sich nie dafür interessiert haben, was Dinge exakt wiegen… Es gibt Völker, die kennen überhaupt keine höhere Mathematik, nichts, was über die simpelste, angewandte Arithmetik hinausgeht. Jeder einzelne von ihnen ist in der Lage, das Kalkül zu begreifen, aber nicht einer von ihnen hat es begriffen oder begreift es. Sogar mein eigenes Volk, die Terraner, hatten bis vor ungefähr dreitausend Jahren keine Ahnung vom Gebrauch der Null.«
Estraven blinzelte verwundert.»Was aber nun Gethen betrifft, so bin ich neugierig, ob wir anderen in uns die Fähigkeit zum Weissagen entdecken, ob das auch zur Evolution des Gehirns gehört und ob ihr uns die Technik lehren könnt.«
»Halten Sie sie für eine nützliche Errungenschaft?«
»Die akkurate Prophezeiung? Aber natürlich!«
»Dann müssen Sie, um sie zu lernen, vielleicht erst zu der Erkenntnis gelangen, daß es eine nutzlose Errungenschaft ist.«
»Ihre Handdara fasziniert mich, Harth, aber gelegentlich frage ich mich, ob es sich dabei nicht einfach um ein Paradoxon handelt, das zur Lebensphilosophie erhoben wurde…«
Wir machten einen weiteren Versuch mit der Gedankensprache. Noch nie zuvor hatte ich wiederholt zu einem absoluten Nicht-Empfänger gesendet. Es war eine unangenehme Erfahrung. Ich kam mir allmählich vor wie ein betender Atheist. Auf einmal gähnte Estraven und sagte:»Ich bin taub — so taub wie ein Stein. Es ist wohl besser, wir gehen schlafen.«Ich stimmte ihm zu. Er schaltete das Licht aus, murmelte sein kurzes Gebet an die Dunkelheit, dann verkrochen wir uns in unsere Schlafsäcke, und nach einer Minute schon glitt er in den Schlaf wie ein Schwimmer in dunkles Wasser. Ich spürte seinen Schlaf, als wäre es mein eigener: die emphatische Verbindung war da, und noch einmal besprach ich ihn, schläfrig schon, nannte ich seinen Namen: »Therem!«
Er richtete sich mit einem Ruck auf, seine Stimme ertönte in der Dunkelheit laut und deutlich über mir:»Arek! Bist du das?«
»Nein, ich bin es, Genly Ai. Ich bespreche Sie.«
Er hielt den Atem an. Stille. Dann hantierte er mit dem Chabe-Ofen, schaltete das Licht ein und starrte mich angsterfüllt mit seinen dunklen Augen an.»Ich habe geträumt«, sagte er.»Ich dachte, ich wäre zu Hause…«
»Sie haben mich gedankensprechen gehört.«
»Sie haben mich gerufen… Es war mein Bruder. Es war meines Bruders Stimme, die ich gehört habe. Er ist tot. Sie haben mich… Sie haben mich Therem genannt? Ich… Das ist ja furchtbar! Viel furchtbarer, als ich es mir vorgestellt hatte.«Er schüttelte den Kopf, als wolle er einen Alptraum abschütteln, und barg dann das Gesicht in den Händen.
»Harth, es tut mir sehr leid…«
»Nein, nennen Sie mich bei meinem Namen. Wenn Sie in meinem Kopf mit der Stimme eines Toten sprechen können, dann können Sie mich auch bei meinem Namen nennen! Hätte er mich ›Harth‹ genannt? O ja, jetzt weiß ich, warum man in der Gedankensprache nicht lügen kann! Es ist etwas Furchtbares! Aber nun gut. Nun gut, sprechen Sie noch einmal mit mir.«
»Augenblick.«
»Nein. Bitte.«
Und während er mich mit wildem, angstvollem Blick anstarrte, besprach ich ihn: »Therem, mein Freund, zwischen uns gibt es nichts zu befürchten.«
Er hörte nicht auf, mich anzustarren, so daß ich schon dachte, er hätte mich nicht verstanden. Aber dem war nicht so.»O ja — doch«, sagte er laut.
Nach einer Weile riß er sich zusammen und sagte ruhig:»Sie haben in meiner Sprache mit mir gesprochen.«
»Weil du die meine nicht verstehst.«
»Ich weiß, Sie sagten mir, daß es mit Worten geschehen würde… Aber ich hatte es mir trotzdem als… als eine Art Verstehen vorgestellt…«
»Empathie, ›Einführung‹, ist etwas anderes, aber es bestehen gewisse Ähnlichkeiten. Sie hat heute Nacht den Kontakt zwischen uns hergestellt. Doch bei der Gedankensprache werden die bewußten Sprachzentren des Gehirns aktiviert und…«
»Nein, nein, nein! Erklären Sie mir das später. Warum haben Sie mit meines Bruders Stimme gesprochen?«Seine eigene Stimme klang rauh.
»Das kann ich nicht sagen. Ich weiß es nicht. Erzähl mir von ihm.«
»Nusuth… Er war mein Vollbruder, Arek Harth rem Estraven. Ein Jahr älter als ich. Er hätte Herr von Estre werden sollen. Wir… Ich bin seinetwegen von zu Hause weggegangen. Er ist schon vierzehn Jahre tot.«
Eine Zeitlang schwiegen wir beide. Ich konnte weder wissen noch fragen, was hinter seinen Worten lag: Allein das wenige, was er gesagt hatte, hatte ihn schon zuviel gekostet.
Schließlich bat ich:»Besprich mich, Therem. Nenne mich bei meinem Namen.«Ich wußte, daß er es konnte: der Rapport war hergestellt oder, wie es die Fachleute ausdrücken, die Phasen waren konsonant. Aber er hatte natürlich noch keine Ahnung, wie man die Schranke von sich aus hebt. Wäre ich ein Lauscher gewesen, hätte ich ihn denken hören können.
»Nein«, gab er zurück.»Niemals. Jetzt noch nicht…«
Doch weder Schock, Scheu noch Entsetzen konnten, und seien sie noch so groß, diesen unersättlichen, umhertastenden Verstand lange hindern. Als er das Licht wieder ausgemacht hatte, hörte ich auf einmal mit meinem inneren Ohr ihn stammeln: »Genry…«Sogar in der Gedankensprache konnte er das ›1‹ nicht aussprechen.
Ich antwortete sofort. Er stieß im Dunkeln einen unartikulierten Angstlaut aus, der aber auch eine Spur Genugtuung verriet.»Nicht mehr! Nicht mehr!«sagte er laut. Nach einer Weile schliefen wir endlich ein.
Es fiel ihm niemals leicht. Nicht, weil ihm die Begabung fehlte oder er die Fähigkeit dazu nicht entwickeln konnte, sondern weil es ihn zutiefst erschütterte und er es einfach nicht als selbstverständlich hinnehmen konnte. Er lernte zwar schnell, die Schranken zu errichten, aber ich weiß nicht recht, ob er jemals das Gefühl hatte, sich auch auf sie verlassen zu können. Vielleicht waren wir ebenso, als vor Jahrhunderten die ersten Edukatoren von Rokanons Welt kamen, um uns die ›Letzte Kunst‹ zu lehren. Vielleicht empfindet ein Gethenianer, auf einzigartige Weise vollkommen, die telepathische Sprache als eine Verletzung seiner Vollkommenheit, als einen Einbruch in seine innerste Unversehrtheit, den er nur schwer tolerieren kann. Vielleicht aber lag es auch an Estravens Charakter, in dem sowohl Freimut als auch Reserviertheit stark ausgeprägt waren: Jedes einzelne Wort, das er sprach, erhob sich aus einer tiefen Stille. Er hatte in meiner Stimme, die ihn besprach, die Stimme eines Toten, die Stimme seines Bruders gehört. Ich wußte nicht, was außer Liebe und Tod noch zwischen ihm und diesem Bruder bestand, aber ich wußte, daß er jedesmal, wenn ich ihn besprach, innerlich vor mir zurückzuckte, als berühre ich eine schmerzhafte Wunde. So sehr, daß die gedankliche Vertrautheit, die zwischen uns entstand, zwar ein Band war, aber die Öffnung, die so zwischen uns entstanden war, ließ weniger Licht herein als ich es eigentlich erwartet hatte, sie ließ uns vielmehr das Ausmaß der Dunkelheit ahnen, die zwischen uns lag.