Er betrachtete es lange, mit einem merkwürdigen Ausdruck, sagte dann aber:»Nein.«
»Es gibt dieses Symbol auf der Erde, auf Hain-Davenant und auf Chiffewar. Es ist das Yin und das Yang. ›Das Licht ist die linke Hand der Dunkelheit…‹ Wie fing der Vers doch noch? Licht, Dunkelheit, Angst, Mut. Kälte, Wärme. Weiblich, männlich. Das bist du selbst, Therem. Beide Hälften und das Ganze. Ein Schatten auf dem Schnee.«
Am nächsten Tag tasteten wir uns durch das weiße Nichts nach Nordosten, bis es im Boden dieses Nichts keine Sprünge mehr gab: ein Tagesmarsch. Wir lebten von Zweidrittel-Rationen und konnten nur hoffen, daß uns der Proviant trotz des Umweges nicht ausgehen würde. Mir schien allerdings, daß sogar das keine große Rolle mehr spielen konnte, da mir der Unterschied zwischen dem, was wir zu essen hatten, und gar nichts recht unerheblich schien. Estraven dagegen war auf den Spuren seines Glücks und folgte dem, was er für Intuition hielt, was aber durchaus auch angewandte Erfahrung und logisches Denken sein konnte. Vier Tage lang zogen wir so nach Osten — die längsten Tagemärsche, die wir bis dahin geschafft hatten: achtzehn bis zwanzig Meilen pro Tag. Doch dann war es plötzlich aus mit dem ruhigen Wetter bei achtzehn Grad minus, die Stille zerbrach, zerbarst und verwandelte sich in einen unaufhörlichen Wirbel von winzigen nadelspitzen Schneepartikelchen vor uns, hinter uns, neben uns, in unseren Augen, in einen Schneesturm, der begann, als das Licht erlosch. Drei Tage mußten wir in unserem Zelt liegen bleiben, während der Blizzard uns in die Ohren schrie — einen drei Tage langen, wortlosen, haßerfüllten Schrei aus den Tiefen seiner atemlosen Lungen.
»Ich bin bald so weit, daß ich zurückschreie«, sagte ich in der Gedankensprache zu Estraven. Und er antwortete mir mit jener zögernden Förmlichkeit, die seinen Kontakt mit mir kennzeichnete: »Hat keinen Zweck. Er wird dir nicht zuhören.«
Stunde um Stunde schliefen wir, aßen ein wenig, pflegten unsere Frostbeulen, Entzündungen und Schrammen, unterhielten uns in der Gedankensprache und schliefen wieder. Dann mäßigte sich das dreitägige Kreischen zu einem Fauchen, zu einem Seufzen, zu tiefer Stille. Der Tag brach durch. Zum offenen Türventil schien strahlend blauer Himmel herein, der uns das Herz leicht machte, obwohl wir zu niedergeschlagen waren, um unserer Erleichterung durch Munterkeit oder begeisterten Gesten Ausdruck zu verleihen. Wir brachen das Lager ab — das dauerte beinahe zwei Stunden, denn wir krochen umher, als wären wir uralte Männer — und stapften los. Es ging jetzt bergab, auf einer leichten, aber deutlich erkennbaren Neigung; die Schneedecke war ideal zum Skilaufen geeignet. Die Sonne schien. Am Vormittag zeigte das Thermometer zweiundzwanzig Grad minus. Die Bewegung schien uns neue Kraft zu verleihen, so daß wir schnell und leicht vorankamen. An diesem Tag machten wir erst halt, als schon die Sterne am Himmel standen.
Zum Abendessen teilte Estraven volle Rationen aus. Wenn wir so weitermachten, hatten wir nur noch Lebensmittel für sieben Tage.
»Das Rad dreht sich«, sagte er ernst.»Wenn wir eine gute Strecke zurücklegen wollen, müssen wir auch gut essen.«
»Eßt, trinkt und seid fröhlich!«spöttelte ich. Das Essen hatte mich regelrecht berauscht. Ich begann unbändig über meinen eigenen Scherz zu lachen.»Gehört alles zusammen — Essen, Trinken, Fröhlichsein. Ohne Essen kann man nicht fröhlich sein, stimmt’s?«Dies schien mir mit einemmal ein Mysterium zu sein, das dem des Yin-Yang-Kreises in nichts nachstand, aber es hielt nicht an. Irgend etwas in Estravens Miene verscheuchte meinen Optimismus. Plötzlich hätte ich am liebsten geweint, aber ich hielt meine Tränen zurück. Estraven war nicht so stark wie ich, daher wäre es unfair gewesen; es hätte ihn womöglich auch zum Weinen gebracht. Aber er schlief bereits. Er war im Sitzen, die Eßschale noch auf dem Schoß, eingeschlafen. Es sah ihm gar nicht ähnlich, so nachlässig zu sein. Aber er hat vollkommen recht, dachte ich. Es ist gar keine schlechte Idee, einfach schlafen zu gehen.
Am nächsten Morgen erwachten wir ziemlich spät, nahmen ein doppeltes Frühstück zu uns, schirrten uns an und zogen unseren leichten Schlitten geradenwegs über das Ende der Welt hinaus.
Unter dem Ende der Welt, einem steilen, geröllbedeckten Hang, der weiß und rot im bleichen Mittagslicht lag, erstreckte sich das zugefrorene Meer: die Guthen-Bucht, gefroren von einer Küste bis zur anderen, von Karhide ganz bis weit zum Nordpol hinauf.
Der Abstieg zu dem Meereseis, durch die zerklüfteten Kanten, Platten und Gräben des großen Gletschers, die durch die Gewalt des fließenden Eises im Ansturm gegen die Roten Berge entstanden waren, kostete uns den Nachmittag und den ganzen nächsten Tag. An jenem zweiten Tag ließen wir unseren Schlitten zurück und packten Traglasten zusammen: Der eine von uns bekam das Zelt als Hauptlast, der andere die Schlafsäcke, und den Proviant luden wir zu gleichen Teilen dazu; so hatten wir jeder knapp fünfundzwanzig Pfund zu tragen. Als ich den Chabe-Ofen auch noch dazupackte, waren es immer noch nicht ganz dreißig Pfund für mich. Es war eine Erleichterung, endlich von dem ewigen Ziehen, Zerren, Stoßen, Stemmen und Schieben des Schlittens erlöst zu sein, und das sagte ich, als wir weitergingen, auch zu Estraven. Er drehte sich nach dem Schlitten um, der in dieser Wüste aus Eis und rötlichem Felsgestein wie ein Stück Abfall wirkte.»Er hat uns gute Dienste geleistet«, sagte er dann. Seine Loyalität erstreckte sich unterschiedslos sogar auf Gegenstände, auf jene geduldigen, ausdauernden, zuverlässigen Dinge, die wir benutzen, und an die wir uns gewöhnen, auf alle Dinge, von denen wir leben. Der Schlitten fehlte ihm.
Am selben Abend, dem fünfundsiebzigsten Tag unserer Reise, dem einundfünfzigsten auf dem Plateau, Harhahad Anner, verließen wir das Gobrin-Eis und betraten das Meereseis von Guthen-Bucht. Wieder marschierten wir so lange, bis es dunkel war. Die Luft war sehr kalt, aber klar und still, und die glatte Eisfläche, sowie die Tatsache, daß wir keinen Schlitten mehr zu ziehen brauchten, wirkte wie eine Einladung für unsere Skier. Als wir an jenem Abend unser Lager aufgeschlagen hatten und schlafen gingen, bewegte uns der Gedanke merkwürdig tief, daß sich unter uns nun nicht mehr meilendickes, sondern lediglich meterdickes Eis und darunter Salzwasser befand. Aber wir verschwendeten nicht viel Zeit darauf. Wir aßen, und dann schliefen wir.
Bei Morgengrauen — es war wieder ein klarer, aber furchtbar kalter Tag, unter vierzig Grad minus bei Tagesanbruch — konnten wir, als wir nach Süden blickten, die Küstenlinie verfolgen, die sich, bis auf einige Gletscherzungen, die hier und da weit ins Meer vorstießen, in einer nahezu gerader Linie nach Süden zog. Wir folgten ihr zuerst dicht unter Land. Der Nordwind schob uns vor sich her, bis wir auf die Höhe eines Taleinschnitts zwischen zwei hohen, orangefarbenen Bergen kamen. Aus dieser Schlucht heulte ein Sturmwind herunter, der uns beide zu Boden warf. Rasch krochen wir wieder nach Osten, auf die glatte Meeresfläche hinaus, wo wir wenigstens aufstehen und weiterlaufen konnten.»Das Gobrin-Eis hat uns aus seinem Schlund gespien«, sagte ich.
Am nächsten Tag lag der östlich verlaufende Bogen der Küste, deutlich sichtbar, direkt vor uns. Zu unserer Rechten lag noch ein Zipfel Orgoreyn, aber die blaue Kurve vor uns war Karhide.
An diesem Tag verbrauchten wir die letzten Orshkörner und die letzten Kadik-Keime. Jetzt hatten wir noch für jeden zwei Pfund Gichymichy, und insgesamt einhundertfünfzig Gramm Zucker.
Ich kann diese letzten Tage unseres Marsches, wie ich eben feststelle, nicht recht beschreiben, weil ich mich nicht sehr deutlich an sie erinnere. Der Hunger kann zwar das Wahrnehmungsvermögen steigern, aber nur, wenn man nicht gleichzeitig im Zustand äußerster Erschöpfung ist; ich vermute, daß alle meine Sinne stark abgestumpft waren. Ich weiß zwar noch, daß ich Hungerkrämpfe bekam, aber ich kann mich nicht erinnern, ob sie mir Schmerzen verursachten. Falls ich in jener Zeit überhaupt etwas empfand, dann war es ein vages Gefühl der Befreiung, das Gefühl, etwas hinter mich gebracht zu haben, ein Gefühl der Freude und Genugtuung. Abgesehen davon, war ich lediglich unaussprechlich müde. Am zwölften Tag, Posthe Anner, erreichten wir das Land und kletterten über den gefrorenen Strand auf die felsige, schneebedeckte Öde der Guthen-Küste.