Ich muß ziemlich krank gewesen sein, denn ich erinnere mich gut an einige Auswirkungen des hohen Fiebers. Der Arzt blieb eine ganze Nacht — vielleicht sogar mehrere — bei mir. An diese Nächte erinnere ich mich nicht mehr, aber ich höre mich heute noch mit einem anklagenden, schrillen Ton in der Stimme zu ihm sagen:»Er hätte anhalten können. Er sah doch die Wachen! Er ist ihnen direkt in die Gewehre gelaufen.«
Der junge Arzt sagte eine ganze Weile gar nichts.»Sie wollen doch nicht behaupten, daß er bewußt in den Tod gegangen ist?«
»Nun ja, vielleicht…«
»Es klingt sehr bitter, wenn jemand das von einem guten Freund behauptet. Und von Harth rem ir Estraven glaube ich so etwas nicht.«
Als ich das sagte, hatte ich nicht daran gedacht, wie sehr diese Menschen den Selbstmord verachten. Für sie bedeutet er nicht, wie für uns, eine freiwillig getroffene Entscheidung. Für sie ist er, im Gegenteil, Verzicht auf die freie Entscheidung, ist er der Verrat an sich selbst. Für einen Karhider, der unseren Kanon läse, läge das Verbrechen des Judas nicht in seinem Verrat an Jesus, sondern in der Tat danach, die, als Zeichen eines verzweifelten Gewissens, die Möglichkeit des Verzeihens bewußt ausschließt: in seinem Selbstmord.
»Dann nennen Sie ihn nicht Estraven, den Verräter?«
»Nein. Und ich habe es auch nie getan. Es gibt eine Menge Leute, die nie an die Schuld, die man ihm vorwarf, geglaubt haben, Mr. Ai.«
Aber ich sah auch darin keinen Trost, sondern schrie ihn in meiner Qual laut an:»Aber warum haben sie ihn dann erschossen? Warum mußte er sterben?«
Darauf gab mir der Arzt keine Antwort. Die Frage war nicht zu beantworten.
Offiziell verhört wurde ich nie. Man fragte mich nur, wie ich von der Pulefen-Farm entflohen und nach Karhide gekommen sei, und erkundigte sich nach dem Empfänger und dem Zweck der verschlüsselten Nachricht, die ich mit Hilfe der Rundfunkstation abgeschickt hatte. Ich erklärte es ihnen. Diese Erklärung wurde sofort nach Erhenrang, an den König weitergegeben. Die Sache mit dem Schiff wurde anscheinend geheim gehalten, aber meine Flucht aus dem Orgota- Gefängnis, meine Wanderung über das Große Eis, meine Anwesenheit in Sassinoth — das alles wurde ausführlich berichtet und diskutiert. Die Rolle, die Estraven dabei gespielt hatte, wurde bei den Rundfunksendungen ebensowenig erwähnt wie sein Tod. Trotzdem sprach es sich herum. In Karhide ist Geheimhaltung in einem außergewöhnlichen Maße eine Angelegenheit der Diskretion, eines selbstverständlichen Schweigens: ein Verzicht auf Fragen, aber keineswegs ein Verzicht auf Antworten. Die Bulletins sprachen lediglich von dem Gesandten Mr. Ai, doch jedermann wußte, daß es Harth rem ir Estraven gewesen war, der mich den Orgota weggeschnappt hatte und mit mir über das Große Eis nach Karhide gekommen war, um die Commensalen mit ihrem Geschwätz über meinen plötzlichen Tod durch das Horm- Fieber im letzten Herbst in Mishnory Lügen zu strafen… Estraven hatte die Auswirkungen meiner Rückkehr ziemlich genau vorausgesagt; ein Irrtum war ihm allerdings insofern unterlaufen, als er sie weit unterschätzt hatte. Denn wegen des Fremden, der krank, untätig, gleichgültig in einem Zimmer von Sassinoth lag, wurden innerhalb von zehn Tagen zwei Regierungen gestürzt.
Wenn man sagt, daß eine Orgota-Regierung gestürzt wird, so bedeutet das natürlich nur, daß die eine Gruppe von Commensalen die andere Gruppe von Commensalen in den wichtigsten Ämtern der Dreiunddreißig ablöst. Einige Schatten wurden kürzer, andere länger, wie man in Karhide sagt. Die Sarf-Partei, die mich nach Pulefen geschickt hatte, konnte sich trotz der beispiellos peinlichen Lage, in der sie sich befand, weil man sie bei einer Lüge ertappt hatte, noch halten, bis Argaven öffentlich die bevorstehende Ankunft des Sternenschiffes in Karhide verkündete. An diesem Tag übernahm Obsles Fraktion, die Freihandelspartei, die Präsidialämter der Dreiunddreißig. Und so hatte ich ihnen schließlich doch noch einen Dienst erwiesen.
In Karhide bedeutet der Sturz einer Regierung in der Regel, daß der Premierminister in Ungnade fällt und durch einen anderen ersetzt, und daß gleichzeitig die Zusammensetzung verändert wird, obgleich auch Attentate, Abdankungen und Unruhen unter der Bevölkerung nicht selten Begleiterscheinungen eines Regierungswechsels sind. Tibe machte nicht den geringsten Versuch, sich an seinem Stuhl festzuklammern. Mein augenblicklicher Wert im internationalen shifgrethor-Spiel, sowie die Tatsache, daß durch mich auch Estraven stillschweigend eine Rechtfertigung erfuhr, verliehen mir ein Prestige, das an Gewicht das seine so eindeutig übertraf, daß er, wie ich später erfuhr, schon zurücktrat, bevor die Regierung in Erhenrang wußte, daß ich einen Funkspruch an mein Schiff gesendet hatte. Er hatte auf Thessichers Denunziation hin gehandelt, nur noch gewartet, bis man ihm Estravens Tod bestätigte, und war dann sofort zurückgetreten. So fielen seine Niederlage und seine Rache dafür auf ein und denselben Tag.
Sobald König Argaven von allen Ereignissen unterrichtet war, ließ er mich bitten, sofort nach Erhenrang zu kommen, und fügte seiner Einladung eine großzügig bemessene Summe für meine Auslagen hinzu. Die Stadt Sassinoth, nicht weniger großzügig, gab mir den jungen Arzt mit auf die Reise, denn ich war immer noch nicht in bester Verfassung. Wir fuhren mit dem Motorschlitten. An die Fahrt selbst erinnere ich mich nur noch bruchstückweise: Sie verlief glatt und ohne Eile, mit langen Pausen, wenn wir darauf warten mußten, daß die Packer die Straße befestigten, und langen Abenden in den Gasthäusern. Sie kann im Höchstfall zwei bis drei Tage gedauert haben, mir aber kam sie endlos vor, und wirklich deutlich erinnere ich mich eigentlich erst wieder an den Augenblick, als wir durch das Nordtor von Erhenrang in die schluchtartigen, von Schnee und Schatten erfüllten Straßen einfuhren.
Da merkte ich, daß mein Herz kräftiger schlug und meine Gedanken klarer wurden. Bis dahin war ich ganz ermattet und zerschlagen gewesen. Jetzt spürte ich trotz meiner großen Müdigkeit von der leichten Reise, daß ich doch wieder ein wenig Kraft gesammelt hatte. Oder war es nur die Kraft der Gewohnheit, hier endlich wieder an einem Ort zu sein, den ich kannte, in einer Stadt, in der ich über ein Jahr lang gelebt und gearbeitet hatte? Ich kannte die Straßen, die Turmbauten, die düsteren Höfe, Pfade und Fassaden des Palastes. Ich kannte die Mission, die ich hier hatte, und sah die Probleme, die mit der Ankunft des Schiffes vor mir lagen. Nun wurde mir zum erstenmal richtig klar, daß ich jetzt, da mein Freund nicht mehr unter den Lebenden weilte, die Aufgabe, für die er gestorben war, allein vollenden mußte. Ich mußte den Schlußstein in den Bogen setzen.
Am Tor des Palastes erhielt ich Anweisung, mich in eines der Gästehäuser innerhalb der Palastmauern zu begeben. Es war das Rundturmgebäude, das Zeichen für ein Höchstmaß von shifgrethor bei Hofe: nicht so sehr eine Auszeichnung durch den König als vielmehr die Anerkennung eines hohen Status. Hier wurden gewöhnlich die Botschafter befreundeter Mächte untergebracht. Ein gutes Zeichen! Doch auf dem Weg dorthin kamen wir am Roten Eckgebäude vorbei, und ich konnte nicht anders, ich mußte durch das schmale Bogentor zu dem kahlen Baum an dem mit grauem Eis bedeckten Teich und zu dem Haus hinüberschauen, das immer noch leer stand.
Am Eingang des Rundturmes begrüßte mich ein Mann in weißem Hieb und karmesinrotem Hemd, der eine Silberkette um den Hals trug: Faxe, der Weissager der Festung Otherhord. Beim Anblick seines gütigen, schönen Gesichts, des ersten bekannten Gesichts, das ich seit vielen Tagen zu sehen bekam, wurde meine krampfhafte Entschlossenheit endlich von einer Woge der Erleichterung abgelöst. Als Faxe in jener seltenen karhidischen Gruß- und Willkommensgeste meine beiden Hände ergriff, konnte ich seine Herzlichkeit aus tiefster Seele erwidern.