Ich rannte, so schnell ich konnte. Am Eingang meines Hauses blieb ich stehen, die Uhr zeigte eine Minute vor halb elf. Ich lauschte — niemand folgte mir. Alles war nur Einbildung, eine Nachwirkung jenes Giftes. Die Nacht war qualvoll. Das Bett unter mir hob sich, senkte sich, hob sich von neuem und beschrieb eine Sinuskurve. Ich sagte mir immer wieder: »In der Nacht müssen alle Nummern schlafen. Das ist ebenso eine Pflicht wie die Arbeit am Tage. Das ist notwendig, damit man tagsüber arbeiten kann. In der Nacht nicht zu schlafen, ist ein Verbrechen.«
Trotzdem konnte ich kein Auge zutun. Ich gehe zugrunde. Ich bin nicht mehr fähig, meine Pflichten dem Einzigen Staat gegenüber zu erfüllen… Ich…
EINTRAGUNG NR. 11
Abend. Leichter Nebel. Der Himmel ist mit goldenmilchigen Schleiern verhangen. Unsere Vorfahren wussten, dass dort ein gelangweilter Skeptiker wohnte, der größte ihrer Skeptiker — Gott. Wir wissen, diese kristallblaue Leere ist das nackte Nichts. Ich freilich weiß nicht, ob sich dahinter etwas verbirgt, denn ich habe zu vieles erfahren. Das Wissen, das von seiner Unfehlbarkeit überzeugt ist, nennt man Glauben. Ich besaß einen festen Glauben an mich selbst, ich glaubte mich bis in die letzten Winkel zu kennen. Und da …
Ich stehe vor dem Spiegel, und zum ersten Mal in meinem Leben sehe ich mich klar und bewusst. Ich betrachte mich verwundert wie einen Fremden. Das bin ich — nein, das ist jener andere: schwarze, gerade Brauen, dazwischen eine steile Falte wie eine tiefe Schramme (ich kann mich nicht entsinnen, ob sie früher schon da war). Stählerne graue Augen, darunter dunkle Schatten von der schlaflos verbrachten Nacht, und hinter diesem Stahl… Ich wusste nie, was dort war. Aus diesem »Dort« — es ist ganz nahe und doch unendlich fern — blicke ich auf mich — auf den anderen, und ich bin sicher, dass jener mit den schnurgeraden Brauen ein Fremder ist. Ich kenne ihn nicht, ich begegne ihm zum ersten Mal im Leben. Aber das wahre Ich, das bin ich, nicht er… Nein, Unsinn! Diese Anwandlungen sind nur Fieberphantasien, eine Folge der gestrigen Vergiftung… Womit habe ich mich vergiftet — mit der grünen Flüssigkeit oder mit ihr? Darauf kommt es nicht an. Ich schreibe dies alles nur nieder, um zu zeigen, auf welch seltsame Abwege der exakte Verstand des Menschen geraten, wie er sich verlieren kann. Der gleiche Verstand, der es vermochte, die unseren Ahnen so schreckliche Unendlichkeit begreiflich zu machen durch…
Im Numerator fällt eine Klappe — R-13. Nun, mag er kommen. Ich freue mich sogar auf ihn. Ich möchte jetzt nicht allein sein.
Auf der Fläche des Papiers, in der zweidimensionalen Welt, stehen diese Zeilen untereinander, doch in jener anderen Welt… Ich verliere das Gefühl für Zahlen: 20 Minuten — das ist vielleicht 200 oder gar 200.000. Es kommt mir höchst sonderbar vor, dass ich mein Gespräch mit R ruhig, gleichmäßig, jedes einzelne Wort genau abwägend niederschreiben soll. Mir ist dabei zumute, als säße ich mit übergeschlagenen Beinen in einem Sessel vor meinem Bett und beobachtete neugierig, wie ich mich auf diesem Bett hin und her werfe.
Als R-13 hereinkam, war ich völlig ruhig. Ehrlich belobte ich die Trochäen des Urteils, die sein Werk waren, und sagte, jener Wahnwitzige sei vor allem durch diese Trochäen bezwungen und vernichtet worden.
»Wenn man mir den Auftrag gegeben hätte«, setzte ich hinzu, »eine schematische Zeichnung von der Maschine des Wohltäters zu machen, dann hätte ich auf jeden Fall Ihre Verse beigefügt.«
Rs Augen verloren plötzlich allen Glanz, und seine Lippen wurden grau. »Was haben Sie?«
»Was ich habe? Ich habe es satt! Alle reden nur noch von diesem Urteil. Ich mag nichts mehr davon hören.« Er machte ein finsteres Gesicht und rieb sich den Rücken, diesen Koffer mit dem seltsamen Inhalt, den ich mir nicht zu deuten wusste. Pause. Er hatte etwas in seinem Koffer gefunden, zog es heraus, rollte es auf; seine Augen lachten, er sprang auf:
»Ich schreibe etwas für Ihren Integral, da ist es!« Er war wieder ganz der alte, seine Lippen schnalzten, die Worte sprudelten wie ein Springbrunnen. »Es ist die alte Legende vom Paradies… natürlich auf uns, auf die Gegenwart übertragen. Jene beiden im Paradies waren vor die Wahl gestellt: entweder Glück ohne Freiheit — oder Freiheit ohne Glück. Und diese Tölpel wählten die Freiheit — wie konnte es anders sein! Und die natürliche Folge war, dass sie sich jahrhundertelang nach Ketten sehnten. Darin war das ganze Elend der Menschheit beschlossen — sie gierte nach Ketten. Jahrhundertelang! Und wir erst sind dahinter gekommen, wie man das Glück wiedergewinnen kann… Unterbrechen Sie mich nicht. Der alte Gott und wir sitzen am gleichen Tisch. Jawohl! Wir haben Gott geholfen, endlich den Teufel zu überwinden — denn der Teufel war es ja, der die Menschen dazu trieb, das Verbot zu übertreten und von der verderblichen Frucht zu kosten, er, die höllische Schlange. Wir aber haben ihm den Kopf zertreten und sind so in das Paradies zurückgekehrt, sind wieder einfältig und unschuldig wie Adam und Eva. Es gibt kein Gut und Böse mehr. Alles ist unkompliziert und einfach geworden. Der Wohltäter, die Maschine, der Würfel, die Gasglocke, die Beschützer — all das ist erhaben und kristallklar. Es erhält unsere Freiheit, und unsere Freiheit ist unser Glück. Die Menschen von einst hätten sich lange den Kopf zerbrochen, ob das eine Ethik sei oder nicht. Aber genug davon. Ist das nicht ein prächtiges Gedicht über das Paradies? Und ein so ernstes dazu!« Ich erinnere mich noch genau, dass ich dachte: Welch scharfer, klarer Verstand in dieser hässlichen, asymmetrischen Gestalt! Darum stand er mir auch so nahe, meinem wahren Ich (ich sehe mich trotz allem als mein früheres, wahres Ich; alles Gegenwärtige ist nur eine Krankheit). R hatte diesen Gedanken offenbar auf meiner Stirn gelesen, denn er schlug mir auf die Schulter und rief lachend: »Ach, Sie… Adam! Übrigens, Ihre Eva…« Er kramte in seiner Tasche und zog ein Notizbuch heraus. »übermorgen, nein, in drei Tagen, hat O ein rosa Billett für Sie. Wie wollen wir es machen? Wie immer? Soll sie mit Ihnen allein…«
»Selbstverständlich.«
»Das meine ich auch. Sonst geniert sie sich, wissen Sie… Eine merkwürdige Geschichte! Mit mir hat sie nur eine Rosa-Billett-Affäre, aber mit Ihnen… Übrigens, sagen Sie, wer hat sich eigentlich als vierter in unser Dreieck eingeschlichen? Wer ist es — gestehen Sie, Sie Verführer!« In mir tat sich ein Vorhang auf, ich hörte das leise Rauschen von Seide, sah die Flasche mit der grünen Flüssigkeit, ein Lippenpaar…
»Sagen Sie«, entfuhr es mir, »haben Sie schon einmal Nikotin oder Alkohol gekostet?«
R schürzte die Lippen und blickte mich forschend an. Ich konnte seine Gedanken deutlich hören: Und du bist mein Freund?
»Eigentlich nicht«, antwortete er. »Aber ich kannte eine Frau…«
»I«, rief ich.
»Wie? Sie waren auch mit ihr zusammen?« Er schüttelte sich vor Lachen. Mein Spiegel hängt hinter dem Tisch, und von meinem Sessel aus konnte ich nur meine Brauen sehen. Sie zogen sich zusammen, und mein wahres Ich hörte einen wilden, widerwärtigen Schrei: »Was meinen Sie mit ›auch‹? Ich verlange…« R riss die Augen weit auf. Mein wahres Ich stürzte sich auf das andere, das Wilde, behaarte, keuchende, und sagte zu R: »Verzeihen Sie mir, um des Wohltäters willen. Ich bin schwer krank, ich kann nicht mehr schlafen. Ich begreife einfach nicht, was mit mir ist.« Die dicken Lippen lächelten flüchtig:
»Ich verstehe! Das ist mir alles bekannt — theoretisch natürlich. Leben Sie wohl!«
In der Tür wandte er sich um, kam noch einmal zurück und warf ein Buch auf den Tisch.
»Mein letztes Werk. Ich habe es für Sie mitgebracht, hätte es fast vergessen, Ihnen zu geben. Auf Wiedersehen!«