EINTRAGUNG NR. 13
In der Morgendämmerung erwachte ich und blickte zu der starken, rosigen Himmelsfeste auf. Alles war gut. Am Abend würde O zu mir kommen. Ich war gewiss genesen. Ich lächelte und schlief wieder ein.
Der Wecker rasselt, ich stehe auf, und alles ist verändert. Hinter dem Glas der Decke, der Wände, überall sehe ich bleichen Nebel. Wilde Wolken, immer schwerer, immer näher — und schon ist die Grenze zwischen Himmel und Erde verschwunden, alles fliegt, fällt, zerfließt, findet nirgends einen Halt. Es gibt keine Häuser mehr, die gläsernen Mauern haben sich im Nebel aufgelöst wie Salzkristalle im Wasser. Wenn man von der Straße her in die Häuser blickt, gleichen die Menschen da drinnen den unlöslichen Teilchen in einer gärenden, milchigen Lösung. Und alles raucht — vielleicht rast irgendwo eine Feuersbrunst.
11.45 Uhr. Vor Beginn der täglichen körperlichen Arbeit, die das Gesetz vorschreibt, ging ich rasch auf mein Zimmer. Plötzlich läutete das Telefon… eine Stimme, die sich wie eine lange, feine Nadel in mein Herz bohrte: »Ah, Sie sind zu Hause? Freut mich sehr. Warten Sie an der Ecke auf mich. Ich gehe mit Ihnen… wohin, das sage ich Ihnen später.«
»Sie wissen, dass ich jetzt zur Arbeit muss.«
»Sie wissen, dass Sie tun werden, was ich Ihnen sage. Auf Wieder sehn. In zwei Minuten.«
Zwei Minuten später stand ich an der Ecke. Ich musste ihr doch beweisen, dass der Einzige Staat über mich zu bestimmen hatte und nicht sie. »Sie werden tun, was ich Ihnen sage…« Sie war wirklich davon überzeugt, ich hatte es an ihrer Stimme gehört. Nun, ich würde ihr ungeschminkt sagen, was ich dachte… Graue, aus feuchtem Dunst gewebte Uniformen huschten vorbei und lösten sich nach wenigen Schritten im Nebel auf. Ich starrte auf die Uhr — zehn, drei, zwei Minuten vor zwölf. Zu spät, um zur Arbeit zu gehen. Wie ich diese Frau hasste! Aber ich musste ihr ja beweisen… Im blassen Nebel schimmerte etwas Blutrotes — ein Mund. »Ich glaube, ich habe Sie warten lassen, aber jetzt haben Sie sich ohnehin verspätet.«
Wie ich sie… Übrigens hatte sie recht, es war tatsächlich zu spät.
Sie trat dicht an mich heran, unsere Schultern berührten sich, wir waren allein. Irgend etwas strömte aus ihr in mich hinein, und ich wusste, es musste so sein. Ich wusste es mit jedem Nerv, mit jedem schmerzlich-süßen Schlag meines Herzens. Mit unsäglicher Freude überließ ich mich diesem Gefühl. So freudig muss ein Eisenstück sich dem unabänderlichen, ewigen Gesetz unterwerfen und sich an einem Magneten festsaugen. So muss ein emporgeschleuderter Stein eine Sekunde lang stillstehen und dann in steilem Flug zur Erde hinabstürzen. So muss ein Mensch nach schwerer Agonie Atem schöpfen, ein letztes Mal — und dann sterben.
Ich erinnere mich, dass ich zerstreut lächelte und ganz unvermittelt sagte: »Es ist neblig…«
»Liebst du den Nebel?«
Dieses alte, längst vergessene Du, mit dem die Herrin einst ihren Sklaven anredete — auch das musste sein, auch das war gut.
»Ja, gut…«, sagte ich laut vor mich hin. Und dann zu ihr: »Ich hasse den Nebel, ich fürchte ihn.«
»Also liebst du ihn. Du fürchtest ihn, weil er stärker ist als du, du hasst ihn, weil du ihn fürchtest, du liebst ihn, weil du ihn nicht bezwingen kannst. Denn man kann nur das Unbezwingbare lieben.«
»Ja, das ist wahr. Und zwar darum, weil… weil ich…« Wir gingen zu zweien, allein. Irgendwo in der Weite schimmerte die Sonne kaum sichtbar durch den Nebel; alles füllte sich mit etwas Weichem, Goldenem, Rosigem, Rotem. Die ganze Welt war eine riesige Frau, und wir ruhten in ihrem Schoß, wir waren noch nicht geboren, wir reiften freudig heran. Ich wusste — die Sonne, der Nebel, das Rosige, Goldene, all das war für mich, nur für mich…
Ich fragte nicht, wohin wir gingen. Mir war alles gleich, ich wollte nur gehen, gehen und reifen… »Wir sind da«, sagte I und blieb vor einer Tür stehen. »Heute hat gerade einer meiner Freunde Dienst. Ich habe dir damals im Alten Haus von ihm erzählt.« Ich sah ein Schild Gesundheitsamt und begriff alles. Ein gläsernes, von goldenem Nebel erfülltes Zimmer. Gläserne Wandregale mit buntschillernden Flaschen und Fläschchen. Elektrische Leitungen, bläuliche Funken in den Röhren. Und ein winzig kleiner Mensch. Er sah aus, als hätte man ihn aus Papier ausgeschnitten, und wie er sich auch drehte, er hatte immer nur ein Profil, ein scharfes Proficlass="underline" eine blitzende Schneide — die Nase, eine Schere — die Lippen.
Ich hörte nicht, was I zu ihm sagte, ich sah nur, wie sie sprach, und fühlte, dass ich glücklich lächelte. Die scherenartigen Lippen blitzten, und der kleine Doktor antwortete: »So, so. Ich verstehe. Eine höchst gefährliche Krankheit, die schlimmste, die ich kenne…« Er lachte, die winzige, papierene Hand schrieb irgend etwas und reichte jedem von uns ein Blatt Papier. Es waren Atteste, dass wir krank seien und nicht zur Arbeit gehen könnten. Ich hatte den Einzigen Staat um meine Arbeit betrogen, ich war ein Verbrecher, ich würde durch die Maschine des Wohltäters enden. Doch das alles war jetzt so fern, so gleichgültig… Ich nahm das Blatt, ohne zu zögern; ich wusste, mit Augen, Lippen und Händen wusste ich, dass es so sein musste.
In der halbleeren Garage an der Ecke mieteten wir ein Flugzeug. I setzte sich ans Steuer, drückte den Starter auf Vorwärts, und wir lösten uns von der Erde, wir schwebten. Hinter uns rosig-goldener Nebel, Sonne. Das winzige, scharfe Profil des kleinen Doktors war mir mit einemmal unendlich lieb und nah. Früher hatte sich alles um die Sonne gedreht: jetzt, wusste ich, drehte sich alles um mich…
Wir standen vor der Tür des Alten Hauses. Die alte Pförtnerin lachte uns entgegen. Ihr runzliger Mund war wohl die ganze Zeit fest verschlossen gewesen, wie zugewachsen, nun aber öffnete er sich und sprach lächelnd: »Nein, so etwas! Statt zu arbeiten wie alle anderen… Nun, wenn irgend etwas ist, komme ich herein und sage euch Bescheid.«
Die schwere, undurchsichtige Tür fiel knarrend zu, und zugleich öffnete sich mein Herz, öffnete sich schmerzlich weit. Ihre Lippen und meine. Ich trank, trank, riss mich von ihrem Mund los, blickte stumm in ihre großen Augen — und küsste sie wieder.
Im halbdunklen Zimmer. Blau, safrangelb, dunkelgrünes Leder, das goldene Lächeln des Buddha, der blitzende Spiegel. Und mein Traum von damals — wie klar wurde er mir jetzt: alles in mir war mit golden-rosigem Saft durchtränkt, im nächsten Augenblick musste er überfließen, versprühen…
Und unausweichlich, wie Eisen vom Magneten angezogen wird, floss ich in sie, mich dem unabänderlichen, ewigen Zwang des Gesetzes beugend. Es gab kein rosa Billett, keinerlei Berechnung, keinen Einzigen Staat mehr; auch ich hatte aufgehört zu existieren. Da waren nur noch spitze, zärtliche, zusammengepresste Zähne, weitgeöffnete Augen, durch die ich langsam in die Tiefe hinabstieg. Totenstille — nur in der Zimmerecke, tausend Meilen entfernt, tröpfelte das Wasser im Waschbecken, und ich war das Weltall, zwischen dem Fall jedes einzelnen Tropfens lagen ganze Epochen…
Ich warf hastig meine Uniform über, sah I an und nahm sie ein letztes Mal mit den Blicken in mich auf. »Ich wusste es, ich wusste, wie du bist…«, sagte sie leise. Sie erhob sich, kleidete sich an, und das bissige Lächeln zuckte wieder um ihren Mund:
»Nun, Sie gefallener Engel? Jetzt sind Sie verloren. Haben Sie keine Angst? Leben Sie wohl! Sie werden allein zurückkehren.«
Sie öffnete die Tür des Spiegelschranks, blickte mich über die Schulter an und wartete, dass ich ging. Gehorsam verließ ich das Zimmer. Doch kaum stand ich auf der Schwelle, da fühlte ich, dass sie noch einmal ihre Schulter an meine lehnen musste…
Ich lief ins Zimmer zurück, wo sie wahrscheinlich vor dem Spiegel ihre Uniform zuknöpfte — und blieb wie angewurzelt stehen. Ich sah, dass der Ring am Schlüssel des Schranks noch hin- und herpendelte, aber I war verschwunden. Sie konnte nicht hinausgegangen sein, das Zimmer hatte nur eine Tür — und trotzdem war sie nicht mehr da. Ich suchte in allen Ecken und Winkeln, ich machte sogar den Schrank auf und befühlte die bunten, altmodischen Kleider — niemand.