Выбрать главу

»Du weißt doch, dass ich ohne dich nicht leben kann! Warum kommst du nicht?«

Sie schwieg. Plötzlich wurde mir die tiefe Stille ringsum bewusst. Es war längst 17 Uhr. Alle waren zu Hause, nur ich war noch auf der Straße, ich hatte mich verspätet. Um mich eine gläserne, von gelbem Sonnenlicht durchglühte Wüste. In der glatten Fläche spiegelten sich die blitzenden Häuserblocks, sie standen auf dem Kopf wie ich. Ich musste sofort, in dieser Sekunde noch, zum Gesundheitsamt gehen und mir ein Attest holen, dass ich krank sei; sonst würde man mich verhaften, und dann… Ach, vielleicht wäre es das beste. Hier stehen bleiben und warten, bis sie mich aufgreifen und in den Operationssaal schleppen — dann wäre alles zu Ende, wäre alles gesühnt.

Ein leises, patschendes Geräusch — ein S-förmiger Schatten stand vor mir. Ohne aufzublicken spürte ich, wie zwei stahlgraue Augen sich in mich hineinbohrten. Ich riss mich zusammen und sagte lachend — ich musste doch etwas sagen —:

»Ich… ich will zum Gesundheitsamt…«

»Warum stehen Sie dann hier herum?« Ich schwieg, meine Wangen glühten vor Scham. »Kommen Sie mit!« sagte S streng.

Ich folgte ihm gehorsam, mit den Armen schlenkernd, die mir nicht mehr gehörten. Ich vermochte nicht die Augen zu heben, und so bewegte ich mich die ganze Zeit in einer grotesken, Kopf stehenden Welt. Ich sah Maschinen, die verkehrt aufragten, sah Menschen, die wie Antipoden mit den Füßen an der Zimmerdecke klebten, sah den Himmel, der mit dem gläsernen Straßenpflaster verschmolz.

»Entsetzlich«, dachte ich, »dass ich das alles auf dem Kopf stehen sehe.« Aber ich konnte nicht aufblicken. Wir blieben stehen. Vor mir Stufen. Ich tat einen Schritt und glaubte, Gestalten in weißen Arztkitteln und eine riesige stumme Glocke wahrzunehmen… Mit größter Anstrengung riss ich meine Augen von dem gläsernen Boden los — und vor mir leuchteten die goldenen Buchstaben Gesundheitsamt… Weshalb er mich hierher und nicht in den Operationssaal geführt, weshalb er mich geschont hatte, darüber machte ich mir jetzt keine Gedanken; ich nahm die Stufen mit einem Satz, schlug die Tür hinter mir zu und atmete auf.

Zwei Ärzte: der eine, klein und krummbeinig, schaute die Patienten finster an; der andere, schmächtig und dünn, hatte eine messerscharfe Nase… Er war es! Ich stürzte auf ihn zu, als wäre er mein Bruder, ich stammelte etwas von Schlaflosigkeit, Träumen, Schatten, von einer gelben Welt.

Seine schmalen Lippen lächelten: »Schlecht, schlecht. Bei Ihnen hat sich offenbar eine Seele gebildet.« Eine Seele? Das ist ein uraltes, längst vergessenes Wort. Wir sagen wohl manchmal noch »ein Herz und eine Seele«, »Seelenruhe«, »Seelenverderber«, aber Seele, nein!

»Ist das… ist das sehr gefährlich?« stotterte ich. »Unheilbar«, erwiderte er.

»Aber — was ist das eigentlich, eine Seele? Ich kann mir das nicht richtig vorstellen.«

»Ja, wie soll ich Ihnen das erklären? Sie sind doch Mathematiker, nicht wahr?«

»Ja.«

»Stellen Sie sich eine Fläche vor, zum Beispiel diesen Spiegel. Blicken Sie hinein — auf dieser Fläche sehen Sie uns beide, Sie sehen einen blauen Funken in der Leitung, und jetzt huscht der Schatten eines Flugzeugs vorüber. Nehmen wir an, diese Fläche sei weich geworden, jetzt gleitet nichts mehr darüber hin, sondern alles versinkt in jener Spiegelwelt, die wir als Kinder voller Neugier bestaunten. Glauben Sie mir, die Kinder sind gar nicht so dumm. Die Oberfläche ist also zu einem Körper geworden, zu einer Welt, und im Innern des Spiegels — und in Ihnen selbst — ist eine Sonne, der Propellerwind Ihres Flugzeugs, Ihre bebenden Lippen und ein zweites Lippenpaar. Sehen Sie, der kalte Spiegel reflektiert die Gegenstände, jener andere aber absorbiert sie, und alles lässt für immer eine Spur zurück. Vielleicht haben Sie einmal in einem Gesicht eine ganz feine Falte entdeckt — und schon ist sie für immer in Ihnen. Sie haben einmal gehört, wie in der Stille ein Wassertropfen fiel, und Sie hören ihn auch jetzt…«

»Ja, ja, genauso ist es!« unterbrach ich ihn und ergriff seine Hand. »Ich habe einmal gehört, wie der Wasserhahn am Waschbecken leise in der Stille tropfte, und ich werde das nie mehr vergessen. Dennoch ist mir nicht klar, warum ich plötzlich eine Seele habe. Ich hatte keine, nie, nie… und plötzlich ist sie da. Warum habe ich allein eine Seele, während die anderen…«

Ich klammerte mich noch fester an die dünne Hand, ich fürchtete, den Rettungsring zu verlieren. »Warum? Nun, warum haben wir weder Federn noch Flügel, sondern nur noch Schulterblätter, die Fundamente der Flügel? Weil wir keine Flügel mehr brauchen — wir haben ja Flugzeuge, und Flügel wären uns nur hinderlich. Flügel sind zum Fliegen da, wir aber brauchen nirgendwohin zu fliegen, wir haben uns in die höchsten Höhen emporgeschwungen, wir haben gefunden, was wir suchten. Nicht wahr?«

Ich nickte zerstreut. Er blickte mich an und lachte spöttisch. Der andere Arzt hatte unser Gespräch gehört, er kam aus seinem Büro und warf dem schmächtigen Doktor und mir einen wütenden Blick zu.

»Was ist denn hier los? Was heißt Seele? Eine Seele, sagen Sie? Weiß der Teufel, was das ist! Wenn das so weitergeht, werden wir bald eine richtige Epidemie haben! Man muss bei allen die Phantasie herausschneiden, exstirpieren. Wie oft soll ich Ihnen das noch sagen?« Er funkelte den kleinen Doktor böse an. »In solchem Fall hilft allein die Chirurgie…«

Er setzte eine riesige Röntgenbrille auf, betrachtete meinen Kopf von allen Seiten, spähte durch die Schädelknochen in mein Gehirn und schrieb etwas in ein Notizbuch. »Sehr interessant! Wirklich sehr interessant! Hören Sie, haben Sie etwas dagegen, dass wir Sie in Spiritus setzen? Das wäre äußerst nützlich für den Einzigen Staat… Es könnte uns helfen, eine Epidemie zu verhüten.« Der Schmächtige sagte: »D-503 ist der Konstrukteur des Integral, und das, was Sie da tun wollen, würde bestimmt verhängnisvolle Folgen haben.«

»Ach so!« brummte der andere und stapfte in sein Büro zurück.

Wir waren unter vier Augen. Die papierdünne Hand legte sich tröstend auf meinen Arm, das scharfgeschnittene, winzige Gesicht neigte sich ganz nahe zu mir, und er flüsterte mir ins Ohr:

»Mein Lieber, Sie sind nicht der einzige Fall. Mein Kollege redet nicht umsonst von einer Epidemie. Besinnen Sie sich einmal, ob Sie nicht bei anderen sehr ähnliche Symptome bemerkt haben.«

Er sah mich forschend an. Wem galt diese Anspielung? Ich sprang von meinem Stuhl auf.

Doch ohne darauf zu achten, fuhr er laut fort: »Und was Ihre Schlaflosigkeit und Ihre Träume betrifft, so kann ich Ihnen nur den einen Rat geben: Gehen Sie öfter zu Fuß. Machen Sie gleich morgen früh einen längeren Spaziergang, vielleicht zum Alten Haus.«

Wieder sah er mich prüfend an und lächelte leise. Und ich glaubte das Wort deutlich zu erkennen, das in das feine Gewebe dieses Lächelns gehüllt war, es war ein Buchstabe, ein Name… Oder täuschte mich meine Phantasie? Er schrieb mir ein Attest für zwei Tage. Ich schüttelte ihm noch einmal die Hand und eilte davon. Mein Herz ging leicht und schnell, so schnell wie ein Flugzeug, und trug mich empor, immer höher empor. Ich wusste, der nächste Tag würde mir große Freude bringen. Aber was für eine Freude?